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Mein Heldentod findet nicht statt

Die Parole hat gestimmt. (Parolen stimmen überhaupt immer irgendwie, scheint mir...). Angeblich soll die Kompanie um 30 Kilometer in Richtung Südwest verlegt werden. Wenn ich das richtig sehe, wäre das schon beinahe Berlin; aber vorläufig marschieren wir noch nach Nordosten... 

Laufen, laufen - scheinbar endloser Wald - und immer noch nach Nordosten. Die Straße verläuft etwas geneigt und schnurgerade, und soweit man nach vorn und nach hinten sehen kann, marschieren Soldaten. Wir sind seit der letzten Neuaufstellung wieder die 7. Kompanie; vor uns laufen die 5. und die 6., hinter uns die 8., jede mit etwa 150 Mann - also alles zusammen etwa 600 Mann, etwa 6 Kilometer Soldaten, das ganze IV. Bataillon. Den Wegweisern nach zu urteilen nähern wir uns Eberswalde.

Das Ziel heißt schließlich Liepe. Einen Kilometer vorher sind wir unter dem Schiffshebewerk Niederfinow durchgezogen. Hier sieht es schon fast wie kurz hinter der Front aus. Die tiefer liegenden Wiesen am Kanal stehen unter Wasser, die Brücken stecken voll Drei-Kilo-Ladungen, an jedem verfügbaren Pfahl findet man die taktischen Wegweiser der verschiedensten Truppenteile angebracht (übrigens auch unseren, die Uhr im roten Dreieck, bei der Zeiger auf die Nummer der Kompanie zeigt). Am Schiffshebewerk liegen Sperrballons der Fliegerabwehr bereit, im ersten Haus von Liepe sitzt eine Dienststelle der Feldgendarmerie, auf den Straßen des Ortes sieht man jede Menge Waffen-SS, hauptsächlich von der SS-Division “Nordland” - und dann gibt es eine Ortskommandantur, die angeblich keine Quartiere für uns hat. 45 Kilometer sind wir gelaufen, rechnet einer nach, der sich hier herum auskennt (er stammt aus Finowfurt, das liegt ganz in der Nähe); und nun haben die kein Quartier für uns?

Schließlich werden wir dann aber doch untergebracht. Wieder mal in einem Dorfgasthof; nur liegen vorne, in der Gaststube und im Saal, welche von SS-Nordland, und wir dürfen freundlicherweise den Heuboden beziehen, auf dem jetzt, im April, aber fast kein Heu mehr liegt. Wir sind eben doch bloß eine Rekruteneinheit und noch keine richtigen Soldaten. Das Essen ist bei den Nordländern, wie wir sehr schnell feststellen, auch viel besser als unseres: die sind nämlich 10 Kilometer vor dem Dorf, an der Oder, eingesetzt, und die ist die HKL, und da gibt es Frontverpflegung; wir bauen am Westausgang des Dorfes die dritte Auffangstellung, und die ist Hinterland, und da gibt es Garnisonverpflegung - mit fünf Mann ein Brot und so...

Also wird weitergeschanzt. Bunker mit drei und vier Lagen Baumstämmen als Decke, eine B-Stelle, Drahthindernisse unmittelbar am Ufer der überschwemmten Wiesen, MG-Nester, Schützengräben - der Spaten wird zum wichtigsten Utensil. Es lässt sich ertragen; vor allem wird durch die gemeinsame Arbeit der Umgangston viel gemütlicher. Einzelne gibt es allerdings, die glauben, sie müssten jetzt einen besonders strammen Kasernenhofbetrieb aufziehen; so beispielsweise der Zugtruppführer, Unteroffizier Häseler; aber das nehmen nicht mal mehr unsere Kleinsten ernst, und so kommt er nicht weit damit.

Als wir heute Mittag zum Essen zurückmarschiert sind, ist etwas Merkwürdiges passiert. Auf der Dorfstraße kommt uns plötzlich von der Oder her eine FW 190 im Tiefflug entgegen, und als wir uns noch darüber wundern, wie niedrig der da über uns fliegt, fängt es plötzlich an zu knattern. Der schießt ja auf uns - und "Tiefflieger 12 Uhr!" und alles spritzt auseinander, wie tausendmal geübt, Sekundenbruchteile später ist die Straße leer, und nur dort, wo die Kugeln einschlagen, spritzen kleine Staubfontänen hoch. Dabei war es ganz eindeutig eine FW 190, sogar die gelben Flügelspitzen waren deutlich zu erkennen. War der besoffen, oder fliegen die Russen jetzt schon unsere eigenen Maschinen? Zum Glück hat er schon weit vor uns angefangen zu ballern, und wir waren so schnell von der Straße und hinter den Häusern, dass er keinen von uns getroffen hat.

Heute früh sind wir recht ungewöhnlich geweckt worden. Unsere ganze Scheune zitterte; und nicht nur ein- oder zweimal, sondern ständig und andauernd, etwa anderthalb Stunden lang. "Da schießen irgendwo große Geschütze!" sagten diejenigen, die so etwas schon mal erlebt hatten. Am Nachmittag erfuhren wir dann: Trommelfeuer auf Schwedt, etwa 25 Kilometer nördlich von uns, zur Vorbereitung eines russischen Übersetz-Versuches. Was daraus geworden ist, weiß aber keiner. Wenn der Iwan über die Oder gekommen sein sollte, dann ist's mit unserem ruhigen Leben hier vorbei. Deswegen marschieren wir am Abend auch nicht mehr in unser SS-bewachtes Quartier im Dorfgasthof zurück, sondern beziehen die Bunker, die wir gebaut haben.

Immer, wenn's am schönsten ist, muss man auseinander gehen, heißt es in einem der gängigen Schlager; unsere endlich einsatzfertige Kompanie, die sich bei den Erdarbeiten der letzten Tage so richtig aufeinander eingespielt hatte, wird mal wieder umgebaut. Die Hälfte geht weg - nach Dresden, wollen die Parolen wissen - und dafür kommt eine Ladung Luftwaffenschrott. Mit dieser - zugegebenermaßen recht respektlosen - Bezeichnung benennt der Landser Leute, die sich eigentlich recht verdient gemacht haben: ehemaliges fliegendes Personal (Flugzeugführer, Bordschützen, Bordfunker), die aus Benzinmangel nicht mehr fliegen können und nun den Krieg zu Fuß weiter führen müssen...

Bei der sich aus den Neuzugängen logisch ergebenden Neuaufstellung werden dann die begehrten Aufgaben alle von den Neuen belegt. Die sind zwar bisher nicht ein Viertel von dem zu Fuß gelaufen, was wir allein seit Heiligensee hinter uns gebracht haben, der größte Teil von ihnen ist nicht mal richtig infanteristisch ausgebildet; aber sie sind älter und werden schon mit "Soldat..." oder sogar "Gefreiter..." angeredet, und das ist entscheidend. Bei uns heißt es immer noch  "Rekrut..." So bleibt für mich denn schließlich nur noch der Schütze 2 am Ofenrohr übrig. Das heißt praktisch, dass ich mich ständig mit zwei koffergroßen Holzkästen von je 11 Kilogramm Gewicht mit der Munition für die Raketenpanzerbüchse 54 abschleppen darf. Ich glaube, wenn es mal wieder ans Laufen geht, werde ich die sehr schnell irgendwo stehen lassen.

Morgen ist der 20. April - Führers Geburtstag. Aus diesem Anlass hat immer der Dr. Goebbels gesprochen; die Rede müsste man sich anhören können... Aber wir haben kein Radio, und selbst wenn - es gibt schon ein paar Tage keinen Strom mehr; und mein Detektor ist schon in Wittstock liegen geblieben. Doch der Leutnant findet einen Weg: er spricht mit dem Obersturmführer von der SS, und der lässt uns - ausnahmsweise - in das Heiligtum, in die Funkstelle seiner Einheit. Na ja, ist ja schließlich auch ein besonderer Anlass heute...

So können wir uns denn die Rede - die wirklich auch dieses Jahr gehalten und übertragen wird - anhören. Schöne Sachen sagt er da, der Doktor - von dem Siege, der greifbar vor uns steht, und von Handel und Wandel, die Deutschland wieder mit allen Völkern treiben wird - und von den unterirdischen Rüstungsbetrieben, durch die er gegangen ist, und in denen er Kanonen gesehen hat - mit sooolchen Läufen - und da muss dann sogar die SS lachen, denn Kanonen haben nun mal Rohre und keine Läufe; Läufe gibt es nur bei Handfeuerwaffen... 

Seitdem wir keinen Strom mehr haben, weiß kein Mensch, was eigentlich so um uns herum passiert. Dass Oderberg gefallen ist, haben wir von der SS erfahren, die bisher dort ihre Stellungen hatte und jetzt irgendwo zwischen Liepe und Oderberg liegt. Vom Ami wissen wir gar nichts (das letzte waren am 17. April "Schwere Kämpfe an den Zugängen zum Harz"), und dann hat man uns noch gesagt, dass der Russe hinter den überfluteten Wiesen in Bralitz liegt. Das haben wir auch daran gesehen, dass das große Sägewerk gerade uns gegenüber in der letzten Nacht abgebrannt ist.

Dann knallt es plötzlich ganz erheblich hinter dem Schiffshebewerk, und Niederfinow wird in aller Schnelle geräumt. Die Menschen ziehen mit Hand-, Kinder- und Leiterwagen auf der Straße an unserer Stellung vorbei. Meist sind es Frauen und Kinder; die Männer sind wahrscheinlich - sofern überhaupt noch zu Hause - beim Volkssturm eingesetzt.

Wir haben am Morgen Marketenderware gekriegt (noch von Hitlers Geburtstag her, wird gesagt) - Schokolade, Rasierklingen und Zigarettenspitzen - dabei stehen uns gar keine Zigaretten zu, wir gelten ja noch als “Jugendliche unter 18 Jahren”. Aber Schokolade - und unten auf der Straße weinen die Kinder. Ich muss an Zuhause denken. Etwa seit einer Woche muss dort der Ami sein, seit den “schweren Kämpfen an den Zugängen zum Harz”; ob Mutter wohl mit den Kleinen auch so über die Straßen ziehen musste? Plötzlich stehe ich auf der Straße und verteile meine Schokolade. Ist ja nicht viel, aber die Kinder gucken ganz ungläubig...

Das ist nun wirklich nicht mehr schön. Gestern begann die Räumung von Niederfinow, heute Nacht wurde nun auch die Räumung von Liepe befohlen. Seit gestern Mittag ziehen auf der Straße an unserer Stellung ununterbrochen Frauen und Kinder vorbei. Dabei wird mir immer unverständlicher, wohin die eigentlich alle sollen? Den Parolen nach soll der Ami an der Elbe stehen, und der Russe ist, das wissen wir nun schon aus eigener Anschauung, über die Oder rüber, und nicht nur bei Schwedt. Was soll denn nun noch werden? Wir können doch den Iwan nicht aufhalten, mies ausgerüstet, wie wir sind, mit den alten empfindlichen Bord-MGs, die bei jedem Sandkorn Ladehemmung haben, mit 15 Karabinern für einen Zug von 30 Mann, mit den Ofenrohren, die zwar jeden T 34 knacken können, aber nach dem ersten Schuss abgeschrieben werden müssen, weil der Feuerstrahl jede Stellung verrät - wir schaffen das bestimmt nicht, was die SS vor uns nicht geschafft hat. Und - wenn wir mal laufen müssen - wohin laufen wir denn dann? Hinter uns der Ami und vor uns der Iwan - verdammt eng ist Deutschland geworden!

Dann ist es hier wieder ganz ruhig. Wir schieben unsere Wache, kriegen gut und reichlich zu essen und lassen den Russen in Ruhe. Er uns übrigens auch; schließlich sind von uns bis zu ihm drei Kilometer Wasser. In Niederfinow knallt es ab und zu mal, dann sind entweder Spähtrupps von uns oder von ihm durchgebrochen, alle halbe Stunde feuert die einsame Haubitze, die irgendwo hinter uns stehen muss, einen einzelnen Schuss irgendwohin, und nachts rattert die “Nähmaschine” über uns weg, tut uns aber auch nichts, sondern versorgt uns nur mit Flugblättern. Die werden aber kaum gelesen, jedoch in den seltensten Fällen - trotz strengen Befehls - beim Kompaniechef abgeliefert; denn das Toilettenpapier ist knapp geworden...

Unsere Gruppe steht ihre Wache auf der B-Stelle und muss dort den Verkehr auf der am Horizont sichtbaren Straße nach Bad Freienwalde beobachten. Die Zahlen, die sich dabei ergeben, machen uns irgendwie nachdenklich. Bis zu 120 Lkws in der Stunde... Wo die wohl alle herkommen? Die Front der Russen soll doch bald wegen Versorgungsschwierigkeiten zusammenbrechen, weil es doch viel zu wenig rollendes Material gibt? Jedenfalls stand das so in irgendeiner Zeitung. Da fahren die wohl extra für uns Karussell da drüben, damit wir was zu zählen haben?

Hinter uns muss es ganz schön rund gehen. Da gab es im dritten Zug einen, der war in Finowfurth zu Hause; und der hat doch seit seiner Einberufung im Februar noch sein Zivil im Gepäck mitgeschleppt, weil er nicht dazu gekommen ist, es in der Kammer abzugeben. Nun, wo der Name "Finowfurth" auf jedem zweiten Wegweiser steht (weil es dort eine Autobahnauffahrt gibt), ist ihm das offenbar zu viel geworden, und er hat einen Urlaubsschein für einen Kurzurlaub beantragt - und hat ihn gekriegt - und hat sein Zivil nach Hause bringen wollen... Aber schon an der Klosterweg-Brücke hat ihn die Feldgendarmerie angehalten. Zivilanzug im Gepäck - Verdacht auf Fahnenflucht - Standgericht - aufgehängt... Hat der Leutnant so bekannt gegeben.

Vorwärts, Kameraden, es geht zurück! Gegen 17 Uhr hat der Leutnant den Zug an dem alten Schießstand antreten lassen und hat uns eröffnet, dass wir offensichtlich eingekesselt sind. Die SS vor uns ist am Vormittag abgezogen, von der Seite schützt uns nur noch das Wasser, und die Essenholer sind mittags nicht mehr nach Senftenhütte durchgekommen, weil dort auch schon Russen sind. Zu verteidigen ist hier nichts mehr als unsere selbstgebauten Bunker, und so lässt uns der Leutnant abrücken. “Der traut sich was...”, geht es mir durch den Kopf; denn es existiert ein Befehl von Himmler als Kommandierendem der Armeegruppe und Oberbefehlshaber der Heimattruppen, nach dem jeder Vorgesetzte, der einen Rückzug anordnet, von jedem seiner Untergebenen erschossen werden kann. Na, unserem Leutnant tun wir das nicht an...

Abends um sechs Uhr ist Abmarsch. Ich darf mich tatsächlich mit meinen beiden Kisten abschleppen. Das ist, als wenn man mit zwei Koffern zum Bahnhof muss, und der Zug fährt gleich ab. (Den Satz müsste mein Deutschlehrer sehen - der würde mir was erzählen!) 22 Kilogramm Panzerabwehrraketen - und den ganzen Tag Wache gehabt, und jetzt schon hundemüde! - Es geht auf Schneisen und Waldwegen in Richtung Chorin - Autobahn Berlin-Stettin. Ich döse im Gehen vor mich hin. Die Kisten habe ich mir mit einem Stück Wäscheleine über die Schultern gehängt, so brauche ich sie mit den Armen nur im Gleichgewicht zu halten; aber die Schultern spüre ich nach kurzer Zeit nicht mehr, so taub werden sie von der Belastung. Die Füße laufen fast automatisch, Schritt für Schritt, und jeder Schritt vorwärts ist doch eigentlich ein Schritt zurück, ein Schritt weg vom Russen, aber dafür ein Schritt näher an den Ami... Wie lange kann das so gehen? Gestern hieß es noch "Die Oder ist die HKL", heute ist sie das jedenfalls nicht mehr; geht denn das, dass eines Tages die Elbe die HKL in beiden Richtungen ist?

Die Reichsstraße 2 bei Chorin. Hier müssten wir nun eigentlich die Russen treffen, denn am Vormittag sollen die Verpflegungsholer hier auf sie gestoßen sein. Aber die Straße ist leer, nur ein umgestürzter Schwimm-Kübel liegt in einer Kurve auf der Böschung. Rüber - und auf der anderen Seite wieder in den Wald. Schwein gehabt...

Brücke über die Autobahn Berlin-Stettin - leer. Keine Russen, keine Brückenposten von uns - einfach leer. Aber auf der Autobahn unter uns - ein unbeschreibliches Durcheinander. Beide Fahrbahnen gehen in Richtung Berlin – Flüchtlings-Trecks, marschierende Kolonnen, Panzer, LKW, Bulldogs mit Planwagen dahinter, Pferdewagen, PKW, Kinder schreien, Vieh blökt und grunzt und brüllt, Kommandos dazwischen, das Ganze im Dunkeln - furchtbar! Nur gut, dass wir nicht in die Richtung wollen... Wir marschieren über Feld- und Waldwege weiter.

Dann ist diese Nacht endlich vorbei. Wir sollen hier neue Stellungen bauen; ein paar primitive Unterstände sind schon da. Wenn ich richtig gelesen habe, hieß das letzte Dorf, durch das wir kamen, Amt Grimnitz. Schön, also bauen wir; aber erst muss der Mensch etwas essen. Ich mache mich freiwillig auf den Weg zurück ins Dorf. Stroh werden wir auch brauchen, fällt mir unterwegs ein, denn in den Unterständen werden wir doch sicher schlafen sollen. Also im Dorf in das erste Haus, hinter dem auf dem Hof ein großer Strohschober steht. Als ich die Haustür aufmache, stehe ich vor einem großen Muttergottesbild in grellen Farben. Katholisch - Polen? Ach was, einfach mal anklopfen... Die Zimmertür geht auf, eine ältere Frau mit einem Kruzifix in der Hand steht vor mir und sagt, bevor ich überhaupt den Mund aufkriege: “Nix, Pan, nix, nix!” und hält mir dauernd das Kruzifix vor die Nase. Aber ich will doch nur fragen, ob sie mir ein paar Bund von dem Stroh... “Nix, nix, nix!”, ich frage noch mal - jetzt hat sie mich verstanden, aber “Nix Stroh, Stroh für Pferd, Stroh für Kuh, Stroh für Schwein...” - Na, muss ja nicht sein; es gibt wohl noch mehr Stroh hier... 

Das nächste Haus ist leer. Sicher geräumt; aber den Keller voll Kartoffeln und eine Gans im Stall haben sie dagelassen. Das gibt Kartoffelsuppe mit Gänseklein für alle; fehlt nur noch ein Topf zum Kochen. Beim Suchen finde ich in der Küche außer einem großen Waschtopf auch noch einen Steintopf voll Schmalz und ein Säckchen mit etwa einem Pfund Hirse. Das geht natürlich auch mit. Die Verpflegungslage wäre also gesichert, nur Stroh habe ich keins. Na, da muss sich dann eben wer anders drum kümmern. Ich lade den ganzen Kram auf eine Schiebekarre, die im Hof steht, und mache mich auf den Rückweg.

In unserer zukünftigen Stellung schläft alles. Nicht einmal einen Posten an den Waffen haben die aufgestellt. Die haben sich das ja bequem gemacht... Marsch, aufstehen, fertigmachen zum Kartoffelschälen! Unter uns fließt ein Graben durch die Wiese, da pflanzen wir uns alle hin und schälen - und schälen - und ich bin so müde...

Plötzlich rüttelt mich jemand an der Schulter. Bin ich doch tatsächlich eingeschlafen! "Komm, das Essen ist fertig!" - Gleich halb drei Uhr nachmittags! Da habe ich aber wirklich ein schönes Stück Tag verschlafen - und sie haben mich schlafen lassen...

Kaum sind wir fertig mit unserer Suppe, da heißt es "Züge auf der Straße antreten!". Was ist denn nun schon wieder los?

Allerhand ist los, wird uns verkündet. Der Reichsmarschall Göring hat aus Gesundheitsgründen dem Führer seine Ämter zur Verfügung gestellt und sich auf seinen Landsitz in Bayern zurückgezogen. Das wird offiziell aus dem Führerhauptquartier bekannt gegeben. Dann folgt ein Divisionsbefehl. Der ist natürlich genauso offiziell, aber dort heißt es, der ehemalige Reichsmarschall sei als fahnenflüchtig zu betrachten, und die Division habe die Ärmelstreifen abzulegen und sei ab sofort die 37. Luftwaffen-Felddivision

Mit den Ärmelstreifen haben wir keine Sorgen, die durften wir als Rekruten bisher ebenso wenig tragen wie die weißen Kragenspiegel mit dem roten Rand; und um uns Gedanken darüber zu machen, wer von beiden nun Recht hat, das Führerhauptquartier oder der Divisionsstab, dazu sind wir viel zu müde. Viel mehr regt uns auf, dass wir mit dem Stellungsbau gar nicht erst anzufangen brauchen; sobald es dunkel ist, wird weitermarschiert. Um 18 Uhr tritt die Kompanie am Friedhof an. Wir sind nämlich schon wieder in einem Kessel drin.

Der Himmel sieht nett aus; wir werden wohl ein anständiges Gewitter kriegen. Da packt man die Zeltbahn vorsichtshalber gar nicht erst ein. Irgendwer hat im Dorf einen einigermaßen stabilen Handwagen besorgt, auf den das ganze schwere Gerät gepackt werden soll. So brauche ich doch die blöden Kisten nicht zu tragen. 

Fängt wirklich gut an, diese zweite Rückzugsnacht. Strömender Regen, Blitze von allen Seiten, fast unaufhörlich rollender Donner; als wenn ringsum schweres Trommelfeuer wäre. Unser Handwagen hat die Waldwege oder seine Last nicht vertragen; gleich nach dem Überqueren der Autobahn (die jetzt völlig leer war); Achsenbruch, Handgranate mit Bindfaden dran, in die Luft gejagt. Um die beiden Kisten tut´s mir nicht leid, aber um das Sturmgepäck, das auch mit drauf lag; jetzt habe ich nur noch das, was ich direkt am Mann trage, und das ist nicht viel: die Decke unter dem Tragegestell auf dem Rücken, die Zeltbahn umgehängt, den Brotbeutel mit dem Säckchen Hirse und dem Kochgeschirr, die blecherne Dunstkiepe auf dem Kopf und eine Panzerfaust. Das ist schön leicht; aber ich bin schon wieder so müde!

Ich könnte richtig im Gehen schlafen. Immer, wenn es blitzt, sehe ich vor mir jemanden mit umgehängter Zeltbahn, Stahlhelm und Panzerfaust über der Schulter, und so lange der vor mir ist, ist alles gut. Rechts und links sind Bäume, und Bäume, und Bäume...

Plötzlich renne ich dem Jemand vor mir auf den Rücken. Im selben Augenblick bin ich hellwach. Was klopft und hämmert und brüllt denn da halbrechts vor uns, höchstens 200 Meter weit ab? Ach so, deswegen haben wir haltgemacht. Ich sehe mich um. Vor uns ist Schilf, rechts ist der Wald ziemlich dicht, links dagegen wird er etwas lichter. Dann stelle ich fest, dass es ja gar nicht mehr regnet. Schließlich setzt sich unsere Kolonne wieder in Bewegung. Nach links - also muss dort rechts irgendetwas faul gewesen sein.

Merkwürdig wenig sind wir nur noch - wo mögen die anderen sein? Ich schiebe mich langsam vor, überhole die, die vor mir laufen, bis ich an der Spitze bin. Da fehlt ja die ganze Gruppe von Kurt Pohlmann und noch so einiges? An der Spitze der Schlange geht der Zugführer mit Unteroffizier Krause. Die, die da fehlen, sind mit dem Kompaniechef woanders lang; und wo wir vorhin gehalten haben, bauten die Russen rechts an der Straße irgendetwas.

Jetzt wird es noch feuchter, als es nach dem Regen ohnehin war. Der Wald auf der linken Seite, der mir so licht erschien, ist sumpfig. Erst geht der Matsch ja bloß bis an die Knöchel, aber bald wird’s tiefer, bis an die Knie, dann wieder weniger, dann bis an die Hüften, mal sogar bis an die Brust - und jetzt fangen die anderen an auszuräumen. Panzerfäuste, Ofenrohre, Feldspaten, Gasmasken, Decken - alles bleibt im Sumpf liegen. Na, das habe ich - wenn auch ungewollt - schon seit der Autobahn hinter mir. Was ich jetzt noch habe, das brauche ich auch. Nur die Panzerfaust kann hier bleiben.

Trotzdem die ganze Situation wirklich alles andere als schön ist, muss ich plötzlich lächeln. In der Schule hieß ich nämlich immer "Sumpfprofessor" - weil ich mich  besonders für Pflanzen- und Tierwelt der kleinen Hochmoore, in denen unsere Bergbäche entspringen, interessiert habe. Manche freie Stunde habe ich dort zugebracht - aber so viel Sumpf, und so direkt, das habe ich mir nicht träumen lassen.

Dass so was auch zum Krieg gehört, hätte wohl keiner von uns geglaubt. Ringsum planscht und gluckert es, in den Stiefeln quietscht das Wasser, bis an die Hüften ist alles durchnässt; man stolpert, fängt sich, macht ein paar Schritte, stolpert wieder - Erlen- und Weidengestrüpp, Schilf, Grasbülten, ein paar Vögel flattern aufgeschreckt hoch - sicher Enten - und wieder Stolpern, man flucht, verheddert sich in der umgehängten Zeltbahn, schluckt das kalte, stinkende Wasser, rappelt sich wieder auf - nur nicht hier liegen bleiben, wer hier nicht mehr weiter kann, wird vermutlich in dieser Brühe absaufen. Ringsum sind wohl die Russen, unter uns der Sumpf - dass es so beschissene Gegenden auf der Erde überhaupt gibt!

Aber letzten Endes gibt es dann doch mal wieder festen Boden unter den Füßen. Wir sind durch! Langsam wurde das auch Zeit. Alles nass, in den Schuhen steht das Wasser, die Uniform stinkt wie bei einem Ertrunkenen. Dazu kommt, dass es sich nach dem Gewitter doch ganz erheblich abgekühlt hat - uns reicht es jetzt erst mal.

Aber wir sind wohl auch durch die Russen durch. Vor uns liegen ein paar Häuser. Am Ortsschild hält uns ein Posten an. "Halt! Gesperrt! Sprengung!" - Was wird da gesprengt? Der Chef geht hin. Eine Bataillonskammer wird zur Sprengung vorbereitet. Eine Kammer? Das heißt Unterwäsche, Uniformen, Fußlappen? Könnten wir da nicht - durchnässt wie wir sind? Aber da ist kein Rankommen; es gibt einen Befehl zur Sprengung, und der wird ausgeführt, und in dem steht nichts davon, dass wir uns vorher noch umziehen dürften.

Irgendwie ist das für mich der Höhepunkt der Idiotie. Wir stehen hier, nass wie die gebadeten Katzen, und wenn es jetzt vor uns kracht, dann sind etwa 500 komplette Garnituren nicht mehr verwendungsfähig. Was würde es denn ausmachen, wenn der komische Zahlmops, der da vorne kommandiert, eine Stunde gewartet und dafür unser versautes Zeug in die Luft gejagt hätte? Aber - des Herrn Wege sind seltsam, und unerforschlich ist sein Ratschluss, und nur der deutsche Kommiss ist noch undurchsichtiger, wie Unteroffizier Krause, der Ex-Theologiestudent, zu sagen pflegt.

Während wir frierend auf die Sprengung warten, fällt mir der Name auf dem Ortsschild auf. “Parlow” heißen die paar Häuser vor uns. Der Posten, der uns aufhält, hat wahrscheinlich den Befehl, “den Ortseingang zu sichern”; er steht direkt neben dem Ortsschild und lässt niemanden daran vorbei.

Aber dann kommt der Knall, und wir dürfen weiter. Am Dorfende brennt ein verhältnismäßig neues Haus - da war wohl die Kammer drin untergebracht - und dann geht es auf einer langen, geraden Straße in den Wald, und der Morgen beginnt zu dämmern.

Die Straße sieht toll aus. Alles, aber auch restlos alles, was zu einer zivilen oder militärischen Wirtschaft gehört, kann man dort finden - nur nicht das, was mich interessiert: nämlich irgendeinen Schießprügel, zu dem es noch passende Munition gibt. Ist ja schließlich lachhaft: Da soll ich nun Soldat sein und habe nicht einmal ein Gewehr! Aber das Einzige, was ich finde, ist ein französisches Lebel-Gewehr, beinahe so lang, wie ich groß bin; nur gab es zu diesen Donnerbüchsen, so genau, wie sie auch schießen, schon im vorigen Jahr im Arbeitsdienst kaum noch Patronen. Also lasse ich die Flinte liegen und hebe mir statt dessen vorläufig, so wenig sie mir auch gefällt, wieder eine Panzerfaust auf.

Wenn hier und jetzt jemand heiraten wollte (blödsinnige Idee!), dann könnte er sich seine gesamte Aussteuer von der Straße zusammensuchen. Bettzeug, Bettgestelle, Tische, Stühle, Töpfe aller Größen, ein Volksempfänger, eine Nähmaschine - alles, was zu einem Haushalt gehört, liegt hier in den Straßengräben.

Wieder ein Dorf - Friedrichswalde, wenn ich richtig gelesen habe. Mitten auf dem Dorfplatz machen wir halt. Dann kommt eine Weile gar nichts. Treckwagen der Bevölkerung ziehen vorbei - hier wird scheinbar auch geräumt. Obwohl niemand ein Kommando gegeben hat, löst sich der ganze Haufen so langsam auf, jeder verzieht sich in einen Winkel, wo er ein bisschen dösen kann.

Irgendwo – “Geradeaus bis zur Kirche, dann links über die Bahn und immer geradeaus” - soll auf einem Gutshof gesammelt werden, bringt der kleine Wendland (bei dem ich mal Schütze 2 am lMG war) mit, der plötzlich von irgendwoher auftaucht. Richtig, der ist ja jetzt Melder beim Kompaniechef. - Wir machen uns auf den Weg. Hinter uns geht die Sonne auf.

Auf dem Gut geht alles drunter und drüber. Ein Flakstab macht sich fertig zum Abhauen. Natürlich, die können sich das erlauben, die haben ja ihre Autos. Sollen sie doch machen, dass sie fortkommen; uns hätten sie sowieso nichts genutzt - wir brauchen im Moment nur ein trockenes Plätzchen zum Schlafen. Nur mal für eine Stunde ungestört die Augen zumachen!

Den passenden Platz finden wir nach einigem Suchen. Auf der Tenne einer der großen Scheunen steht ein dicker Mercedes. Er ist zwar aufgebockt und hat keine Räder, aber dafür hat er herrlich weiche Lederpolster. So ein vornehmes Bett habe ich schon lange nicht mehr gehabt...

Aber aus dem Schlafen wird nichts. Wir wollen es uns grade so richtig bequem machen, da reißt jemand die Wagentür auf und brüllt etwas von “Feiglingen..., sich hier verkriechen, und die anderen kämpfen lassen..., erschießen oder aufhängen..., raus, aber Tempo, und mitkommen!”. Wie ein geölter Blitz sind wir draußen. Irgend so ein dämlicher Kapo von der Flak hat uns aufgestöbert. Der hat uns eigentlich gar nichts zu sagen, aber bei dem Durcheinander hier... Besser mitgehen; der schießt vielleicht wirklich? Trotzdem schade, es hätte sich so schön schlafen lassen.

Woher ist eigentlich die 38/40er MPi, die ich da auf dem Buckel habe? Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zu dem Ding gekommen bin. Das Magazin ist voll. Ob die in der Scheune oder in dem Mercedes rumgelegen hat? Ich weiß es nicht. Aber da sieht man, was der Drill ausmacht; selbst im Schlaf kann ich eine Waffe nicht rumliegen lassen...

Müde bin ich jetzt gar nicht mehr, aber dafür umso hungriger. Jemand drückt mir eine angefangene Dose Kochkäse und eine Tüte Zucker in die Hand – “Hier, kannst Du weiteressen!”. Ist ja nicht gerade eine Zusammenstellung für Feinschmecker, Kochkäse süß, aber schmeckt besser, als man zunächst glauben sollte.

Plötzlich rennt alles in einer Ecke zusammen. Vorsichtshalber laufe ich mit; wer weiß, sonst findet sich wieder wer, der mich erschießen oder aufhängen will, wenn ich sitzen bleibe und esse. Ein Major in Feldgrau (also nicht von der Flak) schreit etwas von “durchgebrochener Kavallerie” und “Gegenstoß”, und ehe ich das alles richtig mitgekriegt habe, hängen mir zwei Gurte MG-Munition um den Hals – “Hier, Sie, der Lange, Schütze 2 für dieses MG! Ab dafür!”.

Nun ist also das passiert, was ich eigentlich nie erleben wollte. Die meiste Zeit meiner Ausbildung war ich “Schütze 2” für irgend etwas und sollte immer irgendwelche Munition schleppen oder wenigstens so tun, weil oft keine da war; aber nun - im Ernstfall - passt mir das gar nicht. Ohne mich ist der andere, der Schütze 1, nämlich völlig hilflos; er kann nur schießen, wenn ich da bin, und wie schnell man sich verlieren kann, das habe ich in den letzten Nächten oft genug erlebt. Wenn ich nicht da bin, dann nützt dem sein schönes 42er mit theoretisch 1500 Schuss in der Minute gar nichts, dann kann er bloß noch türmen.

Wir ziehen aus dem Gutshof los, zum Gegenstoß, wie es heißt. Keinen kenne ich mehr, überall fremde Gesichter, kaum noch jemand von unserm Haufen. “Rekrut?”, fragt der Schütze 1 – “Ja; und Du?” – “Seit 43 dabei, zuletzt Holland!” - und damit ist die Vorstellung erledigt, und ich bin etwas ruhiger geworden. Holland - dann war er sicherlich bei den Rückzugskämpfen dabei, dann ist er ein alter Hase und hat Erfahrungen im Erdkampf, dann kann mir eigentlich nichts passieren... 

Um uns herum alle denkbaren Waffengattungen. Mariner mit goldenen Knöpfen und Litzen am Feldgrau, Flak, Luftnachrichten, ein paar Knochensäcke, aber nicht von unserer Kompanie, Infantrie, einer von einer Panzerjagdbrigade in olivgrüner holländischer Uniform, einer sogar in einem Ausgangs-Waffenrock von der Artillerie mit den Litzen und Knöpfen auf den roten Rockschößen... Wenn ich den Kumpel neben mir nicht hätte, käme ich mir richtig verlaufen vor. Zum Glück gibt es keine Munikästen zu schleppen - oder sollte ich besser “Leider...” sagen? Lange reichen die 150 Schuss, die da in zwei Gurten um meinen Hals hängen, jedenfalls nicht. (Theoretisch 6 Sekunden, fällt mir der Dienstunterricht mit “1500 Schuss pro Minute” ein...)

Irgendwo im Wald hauen wir uns hinter einen Baumstumpf, bringen das MG in Stellung und warten. Vor uns knallt es wie wild, irgendwer schreit, ein paar Querschläger zwitschern über uns weg, Leute in blutbeschmierten Uniformen kommen zurück - Verwundete... So sieht Krieg aus, wenn man direkt dabei ist? Nicht sehr heldenhaft, scheint mir - eher zum Fürchten...

Plötzlich hebt der Schütze 1 den Kolben an und legt den Finger an den Abzug. Ich lege die Gurte zurecht, - und schon rattert es neben mir los. Ich kann nichts sehen, aber er weiß scheinbar, wohin er seine Feuerstöße setzt. Dann bricht plötzlich das Gebell ab - Ladehemmung! Der Kumpel reißt den Verschluss auf, eine völlig zusammengedrückte Hülse fällt heraus; Verschluss zu - weiter - wieder Ladehemmung! Die nächste Hülse ist genauso verdrückt. “Scheißlackmunition! Brennt fest! Laufwechsel!” - Aber es ist gar kein Reservelauf da, und ich merke, dass vor uns ja gar keiner mehr schießt, nur rechts neben uns und halblinks hinter uns wird noch gefeuert. Da geht es neben mir wieder los - drei Schuss, dann wieder Schluss. “Sinnlos!”. Er nimmt meine MPi hoch, drückt ab - da passiert gar nichts. “Hier, sieh das Ding später nach, und jetzt lauf, dass Du hier raus kommst, halbrechts nach hinten kommst Du vielleicht noch durch...”.

Neben mir Gestalten, Tarnjacken, Knochensäcke, Feldgrau, Fliegerblau, der Galafrack von der Ari ist auch wieder da, laufen, nur laufen, nur fort von hier, irgendwo anders hin, ganz egal, wo... Eine Schonung, kleine Kiefern, ungefähr hüfthoch, die fallen plötzlich um, die Erde reißt auf, Rauch, Dreckfontänen, und dabei plötzlich Totenstille... Und immer wieder aufreißende Erde, fallende Kiefern, fallende Menschen, plötzlich ist der Arifrack vor mir einfach weg - und “Granatwerfer” fällt mir ein, und “Nichts wie weg hier” und laufen, laufen - und nichts zu hören – “Druckwelle im Ohr?” - und wieder fällt einer hin, aber ich bin noch heil, also laufen, laufen, laufen...

Dann stehe ich an einem Wildgatter zwischen lauter Fremden und lasse mir Kochkäse und Zucker aus dem Gesicht fallen, und ein alter Stabsgefreiter klopft mir auf die Schultern. “Immer raus damit, immer raus, besser oben als unten, ist entschieden sauberer, und eins von beiden tritt erfahrungsgemäß beim ersten Rabatz immer ein!”.

Am Waldrand wird gesammelt, und dann geht es eine kleine Anhöhe hinauf. Oben steht ein typisches Forsthaus, und davor sind ein paar lange Kartoffelmieten. Hinter denen richten wir uns mal wieder ein. Als ich meinen Platz zugewiesen gekriegt habe, untersuche ich zuerst einmal die MPi und stelle sehr schnell fest, dass ich sie getrost wegwerfen kann; der Schlagbolzen ist abgebrochen. Hätte mir ja eigentlich denken können, dass da was faul war; die 38/40 ist zur Zeit eines der gefragtesten Schießeisen, und wenn so was unbeaufsichtigt rumliegt, muss ja was nicht stimmen.

Also muss ich mich mal wieder nach was Anderem umsehen. Am Forsthaus hat jemand zwei Panzerfäuste abgestellt. Die macht mir bestimmt keiner streitig; Panzerfäuste werden gern “vergessen”. Eigentlich kann ich die Dinger ja auch nicht leiden; aber solange nichts anderes da ist, mögen sie's tun.

Hinter uns schießt verzweifelt irgendetwas Größeres, dem Abschuss nach scheinbar Flak im Erdbeschuss; wohin, ist nicht festzustellen. Vor uns im Grund liegt ein Gutshof, offensichtlich derselbe, auf dem wir am Morgen noch in dem Auto schlafen gehen wollten. Bis auf das Geballer hinter uns ist es relativ ruhig, und ich spüre, dass ich wieder Hunger kriege. Mein Nachbar futtert löffelweise Schmalz. “Hol´ Dir doch!”, sagt er, als ich ihn frage, “am Waldrand, wo der umgekippte Avantiwagen steht, in dem großen Steintopp, da ist noch genug!”.

Es ist wirklich genug. Ich mache mir zwar die Finger mächtig fettig (soll ja schließlich schnell gehen), aber dann habe ich das ganze Kochgeschirr voll schönem, weißen Schweineschmalz.

Plötzlich rattert links von mir ein MG los. Ist es wieder mal so weit? Ich blicke vorsichtig über die Oberkante der Kartoffelmiete nach unten. Neben dem Gutshof bewegen sich irgendwelche Gestalten. Keine von uns, weder Feldgrau noch Fliegerblau; aber - das sind doch Menschen... mit Kopf und Armen und Beinen, und krabbeln da rum wie die Ameisen... Da kann man doch nicht einfach drauf schießen?

Da stößt mir jemand mit der Stiefelspitze in die Rippen. “Mensch, nun schießen Sie doch Ihre Panzerfäuste ab!”. Ein fremder Leutnant - wenn der wüsste, was mir da eben durch den Kopf ging! – “Da sind doch - da sind doch keine Zünder drin!” – “Hier ist aber auch nichts mehr in Ordnung!”, schnauzt er und verschwindet hinter dem Forsthaus. Dem muss aber auch der Arsch mit Grundeis gehen, fällt mir ein; mit einer 60-m-Panzerfaust bis darunter, über einen Kilometer weit, das geht doch gar nicht, und gegen Personenziele ist doch die Panzerfaust sowieso fast wirkungslos...

Was soll ich hier eigentlich noch? Zum Schiessen habe ich nichts, und eigentlich will ich das auch gar nicht mehr; kennen tue ich hier auch keinen Menschen; alles Fremde...  Vorsichtshalber nehme ich die Köpfe von den beiden Panzerfäusten ab, und dann habe ich nicht einmal geschwindelt: Es sind wirklich weder Zünd- noch Schweißladungen drin.

Und dann höre ich eine beinahe vertraute Stimme und drehe mich um. Tatsächlich - am Forsthaus auf dem Weg steht neben einem Pferdewagen - Kurt Pohlmann. Nun hält mich hier überhaupt nichts mehr. Er hat fast seine ganze Gruppe mit sich, einer allerdings, der Robert, liegt mit einem Brustdurchschuss auf einem Pferdewagen.

Dann taucht plötzlich auch unser Kompaniechef wieder auf. Er sammelt alles, was von unserer Kompanie übrig ist. Viele sind es nicht. “Wir gehen”, sagt er. “Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.”

Es mögen sich so etwa 20 bis 30 Mann von unserer 7. Kompanie zusammenfinden; aber als wir uns dann in Marsch setzen, geht fast alles mit, was sich hier um das Forsthaus aufhält. Der forsche Leutnant von vorhin ist verschwunden, und die, die hier oben liegen, sind fast alle froh, dass sich ein Offizier gefunden hat, der irgendein Kommando gibt. Nur ein paar ganz Eiserne wollen auf einen Befehl ihrer Einheit warten. Das wird dauern können, denke ich mir; die sind nämlich von der Flak, und deren Offiziere sind ja schon heute früh getürmt.

Wieder geht es quer durch den Wald; und von allen Seiten, aus allen Büschen kommen Leute und schließen sich uns an. Wir werden immer mehr. - Bis jetzt habe ich immer noch eine der beiden Panzerfäuste mitgeschleppt, einfach nur, um mich dran festzuhalten, aber mittlerweile wird sie mir doch zu schwer; ich lasse sie einfach auf den Boden fallen. Da stößt mir jemand von hinten die Faust ins Kreuz: “Verdammter Bengel, willst Du wohl die Panzerfaust mitnehmen! Das einzige, wovor der Iwan Angst hat!” - Ein stramm sitzender olivgrüner Waffenrock, schwarzes Schiffchen mit Silberrand, schwarze Spiegel mit drei Sternen, Sturmgewehr, weiße Armbinde: Volkssturm, und noch dazu ein Bataillonsführer, also beinahe so eine Art Major - mit dem ist nicht gut Kirschen essen, glaube ich. Also hebe ich brav meine leere Panzerfaust wieder auf, warte, bis er an mir vorbei ist und lasse sie dann erst fallen. Hat ein ganz schönes Tempo drauf, der Herr Aushilfsmajor, scheint die Hosen ganz schön voll zu haben...

Jetzt stehen wir am Scheidewege. Von irgendwoher hat sich noch ein Luftnachrichten-Hauptmann angefunden, der guckt mit unserem Alten zusammen auf die Landkarte und schwört Stein und Bein: “Hier sind wir jetzt, und der Weg geht hier lang, und das ist hier links!”, und alles andere wäre der reine Selbstmord, und unser Alter meint, wir wären woanders, und der Weg ginge rechts, und die beiden werden sich nicht einig. Da rasselt es plötzlich irgendwo im Wald, als ob Buchenstämme mit einem Raupenschlepper ins Tal gerückt würden, dann schreit einer “Panzer!”, und alles läuft irgendwohin, ob rechts oder ob links, ist mit einem Male ganz egal.

Damit ist der Streit entschieden, denn als es wieder ruhig wird, sind wir nur noch sechs Mann: der Alte, Kurt, drei Mann von Kurts Gruppe und ich. Nun könnten wir den Weg nach rechts in aller Ruhe nehmen, wenn wir noch wüssten, wo er ist; bei der ziellosen Lauferei haben wir alle Orientierung verloren.

Ringsum fallen immer wieder vereinzelte Schüsse. Es muss wohl so allerhand hier im Walde drin stecken, von uns wie auch vom Russen... Dann rattert es ganz nahe wieder so wie vorhin, und wieder rennen wir von panischem Schrecken gejagt tiefer in den Wald. Wieder mal laufen, laufen, laufen... und alles Entbehrliche wird weggeworfen, schließlich sogar mein Brotbeutel, weil er mir bei jedem Schritt so schwer an den Hintern schlägt - dann ein Drahtzaun, ein Loch darin, eine dichte Schonung dahinter - richtig tief rein, fallen lassen, Luft holen, ruhig sein, ganz ruhig sein...

Hier werden wir erst mal bleiben müssen. Es ist immerhin schon später Nachmittag. Zeit zum Essen wäre also auch schon wieder; aber außer einer angebrochenen Packung Schoka-Kola, die der Alte noch hat und die in sechs Teile geteilt wird, findet sich nichts Essbares. Ja, wenn ich meinen Brotbeutel noch hätte! Da war noch das ganze Kochgeschirr Schmalz und auch der kleine Beutel Hirse aus Amt Grimnitz drin... Aber der liegt irgendwo vor der Schonung im Wald.

Die Nacht wird alles andere als schön. Wir haben nur drei Zeltbahnen für sechs Mann, haben uns ein Loch gegraben, wo alle sechs dicht an dicht hineinpassen und die Zeltbahnen ganz flach drüber gespannt, damit sie keine Kanten bilden, die man von der Seite sehen könnte. Solange es trocken bleibt, geht das ja; aber dann fängt es an zu regnen, und das Wasser sammelt sich in den Zeltbahnen, und dann kommt Wind und hebt sie an, und alles fließt uns auf die Beine oder auf die Köpfe. Wir frieren wie die jungen Hunde und kommen erst weit nach Mitternacht zum Einschlafen.

Im ersten Morgengrauen bin ich dann schon wieder wach. Es ist einfach zu kalt zum Schlafen. Um mich zu wärmen, mache ich ein paar Schritte hin und her. Wie still das jetzt im Wald ist! Gar nicht wie gestern. Sicher ist jetzt da draußen kein Mensch - da müsste man doch eigentlich... und schon bin ich unterwegs, durch das Loch im Zaun und weiter den Weg von gestern zurück.

Ich finde tatsächlich den Weg, und ich finde tatsächlich auch, was ich suche: Mein Brotbeutel liegt noch dort, wo ich ihn fortgeworfen habe. Gerade will ich die Hand nach ihm ausstrecken, da ertönt irgendwo eine Fahrradklingel. Fast instinktiv lasse ich mich fallen. Vor mir, vielleicht 30 Meter entfernt, strampelt jemand auf einem Fahrrad vorbei. Also müsste dort ein Weg sein, überlege ich. Aber wer soll denn um diese Zeit dort Rad fahren? Der Radfahrer trägt eine Uniform, die mir unbekannt vorkommt; aber ich glaube nicht, dass ich alles kenne, was die deutsche Wehrmacht so alles an Beutegarderobe an ihre Leute ausgegeben hat. Aber - die MPi! Holzkolben und Trommelmagazin - ein Russe! Wenn der mich bloß nicht sieht!

Kaum ist er außer Sicht und ich will mich zurückziehen, da kommt der nächste, und dann noch einer, und dann tönt Sprechen und Singen durch den Wald - da kommt mindestens eine ganze Kompanie hinterher. Ich mache mich so klein wie möglich, möchte am liebsten in die Erde hinein kriechen, damit man mich nicht sieht. Und auf dem Wege zieht es vorbei, Mann für Mann, in khakifarbenen Uniformen, mit Maschinenpistolen, mit Gewehren mit spitzen Bajonetten, MG auf kleinen zweirädrigen Karren, mit roten Fahnen - und so dicht, die müssen doch mein Herz klopfen hören...

Und immer mehr kommen, immer mehr... Wenn die mich bloß nicht hier finden... Vielleicht haben die mich längst gesehen und halten mich für tot... Nur nicht bewegen, nicht rühren... Nicht so aufgeregt Luft holen, am besten überhaupt nicht atmen... Und das Herz klopft so furchtbar laut... Immer noch welche, das ist doch bestimmt ein ganzes Bataillon, oder wie das bei denen heißen mag. Wie lange geht das eigentlich schon so? - Mensch, ich muss doch zurück in die Schonung! Die wissen doch gar nicht, wo ich hin bin - Wenn die nun aufwachen und mich vermissen und mich suchen wollen und hierher kommen - Die laufen denen da vorne doch direkt in die Arme! Oder - viel schlimmer - wenn sie mich nun nicht suchen und einfach abhauen und mich hier allein lassen... Alles sinnlos, jetzt geht überhaupt nichts als wie ein Toter hier liegen bleiben und abwarten - liegen bleiben und abwarten - lie-gen-blei-ben und ab-war-ten...

Aber dann wird der Menschenstrom da vorne schwächer, die Russen kommen vereinzelter, und schließlich versiegt er ganz. Nun aber nichts wie weg hier; aber keine hastigen Bewegungen, die sieht man viel deutlicher als langsame... Ganz bedächtig rappele ich mich auf, greife vorsichtig nach meinem Brotbeutel und drehe mich langsam um...

Da, etwas halblinks vor mir, eine Bewegung - eigentlich nicht mal gesehen, nur so in den Augenwinkeln aufgefasst - und schon liege ich wieder flach. Aufpassen... Hinter einem Baumstamm schiebt sich ein kräftig grüner Knochensack mit dunkelbraunen Flecken heraus. Den gab es im ganzen 2. Bataillon nur einmal, der gehört Kurt Pohlmann... Und schon habe ich alle guten Vorsätze von wegen “langsam bewegen” vergessen, springe auf und stürme auf ihn zu, und alle Angst von vorhin ist weg. “Wo steckst Du denn nur die ganze Zeit? Und was suchst Du ausgerechnet hier?” – “Ich hatte - ich wollte - ich meine, wir hatten doch nichts zu essen, und in meinem Brotbeutel... und Ihr schlieft doch alle noch...” – “Und dazu brauchst Du von fünf Uhr bis halb zehn?”. In diesem Augenblick klingelt es wieder. Ich liege beinahe schon, bevor ich den einzelnen Radfahrer gesehen habe. Kurt versteht. “Ach so - da vorne ist wohl schon die Straße? War wohl allerhand Betrieb?, was?”.

Da habe ich also über vier Stunden am Straßenrand gelegen. Wenn mir auch alles wie eine Ewigkeit vorkam - für so lange hätte ich das denn doch nicht gehalten.

Der Alte erteilt mir einen Verweis “wegen eigenmächtigen Verlassens der Unterkunft” - wie in einer Kaserne im tiefsten Frieden. Im Stillen muss ich grinsen. Seit der letzten Impfung noch im Gasthof in Liepe, die von der Schreibstube eingetragen werden sollte, habe ich ja nicht mal ein Soldbuch, in das er den “Verweis” eintragen könnte; na, und von wegen “Unterkunft”...

Dann aber, und das war ja schließlich der Zweck des ganzen Unternehmens, kochen wir Mittag. Zwar ist das Holz ringsum total durchnässt vom Regen, aber wir verheizen zusätzlich alles, was an entbehrlichem Papier aufzutreiben ist, und das ist mehr, als wir zunächst geglaubt haben. So kriegen wir drei Kochgeschirre voll Regenwasser, das auf den Zeltbahnen stehen geblieben ist, zum Sieden und dann sogar die Hirse zu einem steifen Brei gekocht. Allerdings schmeckt das Ganze etwas unangenehm nach der Zeltbahn-Imprägnierung, aber wählerisch darf man jetzt wohl nicht sein.

Russen, bis wohin, ist völlig unklar; aber sie scheinen mit ziemlicher Wucht und also recht weit vorgestoßen zu sein. Kämpfen hätte keinen Zweck mehr, außerdem fühlen wir uns alle so überhaupt nicht als Helden. Wir wollen nichts weiter als raus aus der Scheiße, in die wir da geraten sind, und nach Hause. Der Alte hat eine Karte von der Gegend, das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, auch, wenn wir im Moment nicht so ganz genau wissen, wo in der Schorfheide wir uns eigentlich befinden; aber dass wir in der Schorfheide sind, ist auf alle Fälle richtig. Nach einiger Beratung einigen sich die anderen (mich jungen Hüpfer fragt gar keiner) auf folgende Verfahrensweise: Absetzen in Richtung Nordwest, Schießen nur im aller äußersten Notfall, zum Russen nur, wenn er uns entdecken sollte und wir anders nicht mehr wegkönnen; allgemeines Ziel: die Elbe und der Ami.

Unsere Waffen - das lMG und die Karabiner, die die anderen immer noch mitgeschleppt haben - werden in sämtliche Teile, in die sie nach der Luftwaffen-Dienstvorschrift zerfallen, zerlegt und möglichst weit über die ganze Schonung verstreut. Es bleiben nur die Pistolen vom Alten und von Kurt und das Fallschirmjäger-Kappmesser, das ich in Wittstock beim Stöbern auf dem Kasernenboden gefunden habe. So sind unsere friedlichen Absichten doch etwas deutlicher erkennbar.

Bis zum Dunkelwerden ist noch Zeit; wir liegen nach dem letzten “Waffenreinigen” in unserem Loch und versuchen, noch etwas auf Vorrat zu schlafen. Da raschelt etwas in den Kiefern hinter mir. Vorsichtig drehe ich mich um. Ein Frischling trollt da durch die Schonung. Niedlich sieht er aus mit seinen dunklen Längsstreifen auf dem hellen Fell; aber für uns ist er gefährlich. In dem Alter ist er noch nicht allein, da sind noch mehr, und dann ist immer auch die Alte dabei - und mit der, das weiß sogar ein Stadtmensch wie der Chef, ist nicht zu spaßen. Mit einer führenden Bache zusammen in der doch relativ kleinen Schonung eingesperrt - da haben wir bis jetzt mächtiges Glück gehabt, und das sollten wir nicht länger als nötig auf die Probe stellen. Als wir das Problem noch im Flüstertone erörtern, wird es an der gegenüberliegenden Seite der Schonung auch lebendig; aber das sind keine Wildschweine, das sind Menschen, die da mit ziemlich lauter Unterhaltung lang ziehen. Der Sprache nach keine von uns... Kein schönes Gefühl: auf der einen Seite Wildschweine, auf der anderen Russen...

Aber beide gehen weiter, ohne von uns Notiz zu nehmen. Trotzdem haben wir jetzt den dringenden Wunsch, von hier zu verschwinden; denn kein normaler Mensch steigt schließlich mit Wildschweinen in einen Käfig, mag es auch ein etwas größerer sein.

Als es dunkel wird, brechen wir auf. Richtung Nordwest, wie festgelegt - einen Kompass hat Kurt zum Glück auch noch. Zunächst hoher Buchenwald, sehr offen, dann ein Wildgatter, ein Loch darin -  durch, dahinter Kiefern, ein Waldweg, rechts und links etwas Unterholz, noch ein Gatter, eine Treppe, die drüber führt, eine Schonung, dann fällt das Gelände etwas ab, unten eine Lichtung, rechts ein großer dunkler Klumpen - ein Haus, da gibt's vielleicht etwas Essbares; aber besser nicht, man weiß nicht, wer drin ist -  wieder eine Schonung, dann ein See, ein schmaler Pfad am Ufer - Plötzlich auf der anderen Seite ein Licht... Was ist da los? Vorsichtig weiter, rechts und links niedriges Gestrüpp, Himbeeren oder so etwas  - Stimmen vor uns, Schritte - runter vom Weg, rein ins Gesträuch, Deckung, ganz ruhig - Stimmen verstummen, Schritte kommen näher, es müssen zwei sein, die da gehen - näher, direkt neben uns, weiter - vorbei...

Liegenbleiben, abwarten - wieder mal Schwein gehabt. Als nichts mehr zu hören ist, wieder auf, weiter durch die Nacht - Hochwald, Schonungen, Blößen, schließlich ein kleiner See, hinter dem See eine Wiese, über ihr ein Hügel und darauf, deutlich gegen den Nachthimmel zu sehen, ein großes, völlig dunkles Haus.

Mit dem Haus da vor uns stimmt irgend etwas nicht. Man kann durch die Dachhaut die Dachsparren sehen, fast so, als wäre der Dachstuhl ausgebrannt; aber dann müsste man den Brandgeruch spüren, bei der geringen Entfernung bis dort oben hin - und es riecht nur nach Wald und nach nichts anderem.

Eigentlich könnte uns das Haus ja gleichgültig sein, und wir könnten es genau so umgehen wie das andere auf der Lichtung vorhin. Das war offensichtlich ein Forsthaus, völlig still und dunkel - aber konnte man wissen, wer da drin war? Schließlich sind wir ja schon seit zwei Tagen irgendwo hinter den russischen Linien unterwegs und wollen wieder Anschluss an eigene Truppen kriegen - oder vielleicht auch durch bis an die Elbe, wo ja schon die Amerikaner stehen sollen ......

„Kowarczik, Müller“ - flüstert der Alte - „sie versuchen mal, zu erkunden, was dort oben los ist - aber passen Sie auf, dass Sie nicht bemerkt werden!“

Müller und Kowarczik verschwinden geräuschlos in der Schonung, und wir setzen uns auf die Böschung eines Weges, der am Rande der Waldwiese entlangführt. Tut gut, mal wieder zu sitzen und die Füße auszuruhen .....

So geräuschlos, wie sie verschwunden sind, tauchen Müller und Kowarczik wieder aus der Schonung auf. „Keine Leute da oben, Herr Oberleutnant, aber - alles ausgebrannt, nur ein Zimmer ist noch brauchbar. Bloß - ob wir da noch was Essbares finden? Sieht alles ziemlich mager aus!“

Das ist nämlich für uns jetzt das allerwichtigste - wir haben keinen Brocken Verpflegung mehr, und ohne etwas zu Essen kommen wir auf keinen Fall durch bis zu eigenen Leuten oder bis zum Ami. Zwar haben wir alle unsere Waffen in den Erdlöchern der letzten Nacht vergraben, und dann haben wir flüsternd geübt, was der Obergefreite Cibulla, der aus Oberschlesien kommt, uns vorgesagt hat: „Nje strelaitj! Nje strelaitj!“ (das soll Polnisch sein und „Nicht schießen“ heißen - und für den äußersten Fall bleiben) - aber ein bisschen Marschverpflegung müsste schon sein .....

„Wir gehen hoch!“ sagt der Alte und geht uns voraus zwischen den kleinen Kiefern nach oben, und wir schleichen hinter ihm her.

Oben angekommen, sehen wir - Müller und Kowarczik haben wohl geträumt. Da ist nichts ausgebrannt, und da steht überhaupt kein Haus - da gibt es eine riesige Konstruktion aus Latten und Schilfmatten und Sackleinen und Dachpappe, die wohl einem großen Gutshaus ähnlich sehen soll und ganz offensichtlich dazu dient, Luftangriffe auf sich zu ziehen und so von einem realen Objekt abzulenken - eine Scheinanlage.

Der Alte scheißt Kowarczik und Müller nicht zusammen, wie sie das wohl verdient hätten, sondern knurrt nur: „Bißchen genauer hätten Sie sich schon umsehen können!“, und dann sagt er: „Wo ist denn nun das Zimmer, das Sie gesehen haben?“

Da ist dann aber auch kein Zimmer, sondern in dem einen der drei Flügel des imitierten großen Gutshauses steht eine kleine Baracke. Zwei Räume, im hinteren drei Doppelstockbetten mit Strohsäcken und Kopfkeilen und im vorderen sechs Spinde, sechs Hocker und ein großer Tisch.

Sechs Betten - und wir haben das letzte Mal Ende März in Berlin-Heiligensee in Betten geschlafen und sind jetzt so entsetzlich müde..... Da muss wohl auch der Alte dran denken, denn er sagt: „Na gut - eine Stunde können wir ja Rast machen. Aber bevor es hell wird, müssen wir wieder im Wald sein!“

Ich weiß schon, was jetzt kommt. Gleich wird der Alte sagen: „Unteroffizier - teilen Sie die Quartierposten ein!“ und Unteroffizier Pohlmann wird in die Runde gucken und so tun, als überlegte er, und wird dann sagen: „Petersen - Sie ziehen als erster auf - Ablösung Müller nach zwei Stunden!“ - denn die erste Wache ist die gemeinste, weil der Betroffene, so müde wie er ist, erst mal zusehen muß, wie die anderen schlafen - und unangenehme Dinge  bleiben immer auf mir als dem Jüngsten hängen.

Aber bevor das kommt, will ich wenigstens mal auf einem von den Strohsäcken gelegen haben; und so lasse ich mich auf das nächst Bett fallen, schiebe den Stahlhelm vom Kopf, ziehe die Beine hoch - und bin im nächsten Moment eingeschlafen.

Im Traum liege ich wieder wie gestern früh in Wirklichkeit keine zwanzig Meter von einer Straße entfernt hinter einem Stubben, und auf der Straße marschieren Russen vorbei, immer mehr und immer mehr, und marschieren, und marschieren - und ich habe eine Scheißangst, genau wie gestern früh, denn die Russen machen doch keine Gefangenen, die erschießen doch alles, und uns von „Hermann Göring“ sowieso ..... Wir haben zwar keine Ärmelstreifen an der Uniform und schon gar keine weißen Spiegel, und die Soldbücher hat die Schreibstube schon vor zwei Wochen für irgendeine Eintragung eingesammelt - aber ich will doch nicht erschossen werden, und mein Herz klopft so laut, das müssen die da vor mir doch hören .....

Aber schließlich wache ich auf, und da sind gar keine Russen, und auf den Betten ringsum liegen die anderen und schnarchen, und es gibt auch gar keinen Quartierposten. Ist da überhaupt keiner eingeteilt worden, oder hat sich der, der eingeteilt war, auch einfach hingelegt? Aber das ist ja eigentlich egal - draußen dämmert es, und nun müssten wir wohl wieder in den Wald zurück.

Aber bevor ich jetzt den Alten wecke, der genau wie die anderen schnarcht, gucke ich mich mal nach etwas Essbarem um, und durchstöbere die sechs Spinde in der anderen Stube. Das sind richtige, graublau angestrichene Luftwaffenspinde mit zwei Türen, wie auf dem Fliegerhorst in Wittstock, und gleich im ersten finde ich eine Fliegerbluse von einem Oberfeldwebel mit allem Lametta, das daran gehört, sogar mit den weißen Spiegeln und unserem Ärmelstreifen, und eine blaugraue Bergmütze. Die ist mir zwar eine Kleinigkeit zu groß, aber das stört mich nicht weiter; denn nun brauche ich doch nicht mehr ständig mit dem Stahlhelm herumzulaufen.

Natürlich hat jeder Spind sein Lebensmittelfach, und darin haben die, die hier gewohnt haben, die Kanten vom Kommissbrot liegen lassen. Die Kanten liegen zwar schon ein paar Tage und sind nun noch härter, als sie das ohnehin schon zu sein pflegen - aber sie sind noch essbar, und so hänge ich mir den Stahlhelm wie einen Henkelkorb an den Arm und sammele hinein, was ich finde - und am Ende sind das fast anderthalb Dutzend Brotkanten und sogar ein halber Würfel Margarine.

Und dann ist da plötzlich eine Stimme …… Nicht hinter mir, in dem Raum mit den Betten, wo die anderen schlafen, sondern draußen, außerhalb der Baracke. Was der da draußen sagt, kann ich nicht verstehen - aber da ist auf alle Fälle jemand, der da vorher nicht war, und wenn gesprochen wird, müssen das wohl sogar mehrere sein.

 Ich mache ganz langsam die Barackentür einen Spalt weit auf  und sehe vorsichtig hinaus - und da stehen „gegenüber“, auf der anderen Seite der Scheinanlage, zwei Leute und unterhalten sich. Sie tragen weder Fliegerblau noch Feldgrau, sonder Olivgrün - aber das trugen in der Flakkaserne in Heiligensee die Leute von der Panzerjagdbrigade auch, das waren holländische Uniformen, die wegen der besseren Tarnung an die ausgegeben wurden. Das stört mich also nicht weiter. Aber die MPi, die der eine von den beiden trägt - die hat ein rundes Trommelmagazin - so etwas gibt es bei der Wehrmacht nicht - das sind Russen!

Also gehe ich leise zurück in die hintere Stube und kriege den Oberleutnant ganz vorsichtig beim Arm. „Herr Oberleutnant - die Russen sind da!“ - Der setzt sich so rasch auf, als ob er gar nicht geschlafen hätte, steht auf, zieht das Koppel fest, setzt sich die Mütze auf und greift seine Kartentasche. „Wo?“

Wir gehen in den vorderen Raum, und ich lege zuerst den Finger auf die Lippen - wenn ich die da drüben hören konnte, hören die uns doch auch - und zeige dann auf den Türspalt.  Der Alte blickt hindurch, setzt sich dann an den Tisch und flüstert: „Schicken Sie mir den Obergefreiten Cibulla her, und dann wecken Sie vorsichtig die anderen!“ - Ich wiederhole den Befehl nicht, wie das eigentlich vorgeschrieben wäre, sondern ziehe sofort los.

„Herbert, Du sollst nach vorne zum Alten kommen, die Russen sind da,“ flüstere ich dem Cibulla zu, und auch der kommt sofort hoch, setzt das Schiffchen auf und geht in das andere Zimmer. Die restlichen Drei bekomme ich nicht so leicht wach; vor allem der Kowarczik macht Schwierigkeiten, und ich habe eine Heidenangst, dass der in seiner Verschlafenheit womöglich anfängt, mich anzubrüllen, weil ich ihn aus dem Schlaf hole, aber als er „Die Russen sind da,“ hört, wird er ganz schnell ganz friedlich. Nur Unteroffizier Pohlmann sagt halblaut: „So eine verdammte Scheiße .....“

Als wir nun alle vier nach vorne gehen, steht der Alte auf und sagt leise: „Also, wir gehen jetzt raus und ergeben uns. Ich weiß nicht, wie viele Russen da draußen sind, aber ich nehme nicht an, dass sie uns erschießen werden - schließlich finden hier keine Kampfhandlungen mehr statt, und wir sind unbewaffnet. Ich gehe als Erster, nach mir kommt der Obergefreite, wegen der Verständigung, denn er kann ein bisschen Polnisch, dann Unteroffizier Pohlmann, dann der Rest, wie immer.“ - Diesmal bin ich gar nicht böse, dass ich auf diese Weise der Letzte bin.

Herbert Cibulla macht die Tür weit auf, und der Alte geht tatsächlich als Erster ins Freie, hebt die Arme über den Kopf und geht auf die Beiden in den olivgrünen Uniformen los. Nach ihm geht Herbert, und der ruft irgendetwas Unverständliches - der kann ja tatsächlich irgendetwas Auswärtiges - und dann kommen wir übrigen, Hände über den Kopf, wie sich das gehört und wie wir das hunderte von Malen von den „Kameraden von der anderen Feldpostnummer“ in der Wochenschau gesehen haben. Irgendwie ist da noch - wenigstens bei mir - der Gedanke daran, dass wir mindestens genau so oft gehört haben, dass die da vor uns ja keine Gefangenen machen - aber der Alte hat gesagt, dass er das nicht glaubt, und er ist ja auch als erster raus gegangen und geht jetzt vor uns her.

Die Beiden haben anscheinend auch einen Schreck gekriegt, das ist daran zu merken, wie sie herumfahren und wie der mit dem Schiffchen seine MPi in Anschlag bringt - aber dann sagt der mit der Schirmmütze etwas, und die MPi geht wieder runter - und dann legt er die Hand zum Gruß an die Mütze, geht auf unseren Alten zu, grüßt noch einmal und sagt etwas zu Herbert, und der übersetzt: „Er hat sich vorgestellt, er ist Oberleutnant - und er heißt, glaube ich, Moskalenko oder so ähnlich.“. Da grüßt  unser Alter auch, nicht mit dem „Deutschen Gruß durch Erheben des rechten Armes in Augenhöhe“, sondern auf die alte Art  mit der Hand an der Mütze und stellt sich vor und holt seine kleine 6,35-er Mauser-Pistole aus der Hosentasche und gibt sie dem Oberleutnant, und der scheint sich mächtig darüber zu freuen und schüttelt ihm die Hand.

Dann stehen wir etwas verlegen in der Gegend herum, und keiner weiß so recht, was man jetzt machen müsste - die Russen scheinbar auch nicht  - aber plötzlich kommt der mit der Feldmütze, der wohl auch der Ältere von den Beiden ist, auf mich zu, fasst mich bei der Schulter, dreht mich zu sich herum und redet auf mich ein - und Herbert übersetzt: „Er will wissen, wie alt Du bist - er hat zuhause auch so einen Jungen -“ und als er ihm sagt, dass ich sechzehn Jahre bin, schüttelt der Russe den Kopf und sagt wieder etwas, und Herbert übersetzt: „Er meint, dann kämest Du sicher bald nach Hause.“

Dann spricht wieder der russische Oberleutnant, und dann Herbert, und da entwickelt sich wohl eine richtige Unterhaltung, nur ab und zu wirft uns Herbert mal einen deutschen Satz hin - „Die beiden sind auch Flieger“ und „Wir sind die ersten Gefangenen, die der Oberleutnant gemacht hat“ und „Sie wollten eigentlich nur mal sehen, was das hier auf dem Hügel für eine Anlage ist“ - und nachdem wir dann wieder eine Weile daneben gestanden und nichts verstanden haben, sagt der Alte schließlich: „Die verstehen Ihr Polnisch aber  scheinbar recht gut!“ - und Herbert antwortet darauf: „Das ist gar kein Polnisch - das ist Russisch; ich habe doch, als wir noch zu Polen gehörten, fünf Jahre in Russland gearbeitet. Das klappt noch recht gut, das Sprechen, und nun wollen die wissen, wo ich überall gewesen bin.“

Aber schließlich haben sie wohl genug gehört, und wir setzen uns in Marsch - der russische Oberleutnant mit dem Alten an der Spitze, dann wir in unserer üblichen Reihenfolge, und am Schluss der andere Russe - ein Sergeant, hat Herbert uns gesagt - mit der schussbereiten MPi direkt hinter mir.

Es geht ein Stückchen durch die Kiefernschonung bergab, dann kommt freies Feld, und rechtwinklig zum Rande der Schonung verläuft ein Hochwaldrand in unserer Richtung. Am Rand der Schonung haben scheinbar die Fahrer eines Trosses weggeworfen, was sie beim Abhauen nicht brauchen konnten - überall liegen gepackte Luftwaffenrucksäcke herum, zum Teil auch aufgeschnürt und auseinandergezerrt, und dazwischen sind Soldbücher verstreut. Der Alte hebt ein paar auf und blickt hinein -  „Nicht von uns!“ sagt er und wirft sie wieder hin. Wir gehen an dem Hochwaldrand entlang weiter den Hang hinab.

Direkt vor uns auf dem Weg vor den Kiefern ist ein Trichter, und in dem liegen drei oder vier Mann in feldgrauen Uniformen mit großen Blutflecken - und bei mir denkt es grade irgendwo im Hinterkopf „Also doch!“, denn ich habe ja den Alten  mit der MPi direkt hinter mir - da versucht der russische Oberleutnant plötzlich, Deutsch  mit uns zu reden.

„Das - Es-es, verstehn - nix Chände choch, immer Bumbum, Bumbum  mit  - wie sagen - Faust-, Faust-.... Faust...patron - muss schissen tott .... Sie nix Bumbum, Sie nix Karabin - Sie Chände choch, Sie Krieg kaputt - Sie nix schissen tott, Sie bald nach Chause!“

Ob das wirklich so ist ..... Jedenfalls sind das die ersten toten Landser, die ich in meinem Leben sehe, und auch bei den anderen Kumpels gibt es wohl irgendwelche unguten Gedanken; sogar Herbert hört mit seiner russischen Unterhaltung mit dem MPi-Mann auf, und wir trotten schweigend um den Trichter herum und weiter am Waldrand entlang, auf die Straße zu, die vor uns am Fuße des Hanges auftaucht und an der ein großes Gut liegt.

 Auf dem Ortsschild steht „Ahlimbsmühle“, und dort lässt der russische Offizier uns halten, wechselt ein paar Worte mit dem Sergeanten mit der MPi und verschwindet dann auf dem Gutshof. Kaum ist er weg, da wendet sich der an uns und scheint etwas zu fragen, und Herbert übersetzt:

„Der Sergeant fragt, ob ihm nicht einer von den Kameraden als Andenken an diesen Tag seine Uhr schenken möchte? Er gibt auch zum Tausch seinen Tabaksbeutel dafür .....“

Meine Armbanduhr, die ich von Großmutter zum vierzehnten Geburtstag gekriegt habe - eine „Junghans“ für 12,50 Reichsmark - hatte die Wasserpanscherei vor Parlow vor drei Tagen übel genommen und war stehen geblieben; seitdem ich gestern, als wir in der Schonung darauf warteten, dass es dunkel wurde, mit dem Taschenmesser und einer Stopfnadel ein bisschen drin herumgestochert hatte, geht sie wieder - das heißt: sie tickt, aber richtig die Zeit anzeigen wird sie wohl kaum. Soll er sie haben - und ich mache sie ab und halte sie ihm  hin. Er fasst zu und holt dann tatsächlich einen bunt bestickten Stoffbeutel, so groß wie ein kleiner Apfel, aus der Hosentasche und bietet ihn mir an.

„Sag’ ihm, den kann er behalten,“ sage ich zu Herbert, „ich rauche doch gar nicht!“ - und als Herbert ihm das übersetzt, verschwindet der Tabaksbeutel wieder, und der Sergeant haut mir mit seiner mächtigen Pranke auf die Schulter - wenn ich nicht schon sitzen würde, wäre ich davon glatt umgefallen. „Er bedankt sich,“ sagt Herbert.

Ich habe immer noch meinen Stahlhelm mit den Brotkanten und dem Rest Margarine am rechten Arm hängen, und weil jetzt nichts weiter mit uns passiert und wir immer noch am Ortsschild im Straßengraben sitzen, teile ich das ganze in sechs etwa gleiche Teile und drücke jedem ein Teil davon in die Hand. Dabei muss ich an Bücher denken, die ich früher zuhause mal gelesen habe, über Kriegsgefangene bei den Russen im Krieg 1914/18 - „Armee hinter Stacheldraht“ und „Nacht über Sibirien“ fallen mir ein - und wie das dort die große Kameradschaft war und alles geteilt wurde, und ein bisschen komme ich mir beinahe auch wie so ein Kamerad von damals vor - na ja - jedenfalls hat jeder zum Frühstück etwas zu essen, und der Alte sagt sogar „Danke“, als er mir seine Portion abnimmt.

Dann kommt der Oberleutnant zurück und hält uns eine kleine Ansprache, und Herbert übersetzt. Die große freie Fläche hinter uns ist ein Rollfeld von einem Feldflugplatz, und den wollen die Russen benutzen; aber das geht nicht, weil dort ein paar gesprengte Flugzeuge herumliegen,. Die müssen also weggeräumt werden, und die Allee großer Pappeln, die sich zwischen Gut und Flugplatz hinzieht, muß auch verschwinden, weil sonst der Anflug zu kurz ist. Das soll unsere Arbeit sein - und dann zieht der Sergeant mit uns los und auf das Rollfeld.

Dort liegen tatsächlich ein paar Me 109 mit abgesprengten Fahrwerken platt auf dem Bauch und sehen in dieser Lage merkwürdig unbeholfen aus, und während ich noch überlege, ob wir sechs Mann mit so einer Maschine überhaupt fertig werden können - was wiegt so etwas überhaupt? - stellt der Sergeant schon zwei Mann recht und links an die Luftschraube,  zwei an die Querruder und die letzten zwei an die Höhenleitwerke, jeweils rechts und links, dann scheint er laut zu zählen, bei „Drei!“ (oder was das sonst heißen mag) heben wir aus dem Kreuz heraus hoch - und siehe da, es ist zwar verdammt schwer, aber es geht. Auf dem Wege bis an den Rollfeldrand müssen wir zwar ein paar Mal absetzen, aber schließlich können wir die Mühle dort hinlegen

Mir fällt ein, daß ich zuhause mal mit meinem Schulfreund Fritz einen ganzen Nachmittag die Äcker am Sangerhäuser Segen-Gottes-Stollen abgesucht habe, weil wir beobachtet hatten, wie ein paar „Lightnings“ eine Me 109 abschossen, die dann scheinbar dort herunterging. Wir waren auf die Trefferbildkameras scharf, die in den Flügelwurzeln eingebaut waren - zwei „Zeiss-Robot“, automatische Kleinbildkameras 24x36 mm - aber wir haben damals die Maschine gar nicht gefunden. Hier habe ich nun die Mühlen in der Hand - aber die Aufnahmefächer für die Kameras sind leer. Die beiden Robot hat man wahrscheinlich schon ausgebaut, bevor man die Handgranaten in die Fahrwerke gesteckt hat - oder die Russen haben auch gewusst, was sie wo suchen mussten?. Na ja - fällt mir dann ein - und wenn schon? Was wollte ich jetzt damit? Nach Hause werde ich doch vermutlich für längere Zeit nicht kommen .....

Während wir uns mit der zweiten Maschine herumbalgen, fährt auf der Straße ein Flüchtlingstreck vorbei, und den halten die Russen an. Sie holen die Männer - es sind nicht allzuviele, meist Halbwüchsige, ein bißchen jünger als ich, und Ältere - von den Wagen herunter, drücken ihnen Äxte und große Schrotsägen in die Hände und schicken sie an die Pappeln, und unser Sergeant fängt an, uns anzutreiben. „Es muß schneller gehen, die Flugzeuge kommen bald,“ übersetzt Herbert. Aber - rennen können wir mit der Last beim besten Willen nicht, und absetzen müssen wir beim Tragen immer öfter, denn der Weg von der Mitte des Rollfeldes bis an den Rand ist immerhin runde 500 Meter  lang.

Während wir uns so mit den Maschinen herumbalgen, beerdigen die Russen auf der Böschung über der Straße einen Gefallenen. An Stelle eines Sarges benutzen sie einen großen Kleiderschrank, den sie wohl aus dem Gut geholt haben, ein Offizier hält am Grabe eine Rede, dann schießen die, die um das Grab herumstehen, aus allen möglichen Waffen drei Salven Salut über das Grab - das knattert, „als wenn eine Ziege aufs Trommelfell scheißt“ - und dann marschieren sie an dem Grab vorbei. Als letzter kommt ein Einzelner mit einem Mongolengesicht und offensichtlich zu großen Stiefeln, bei denen sich die Spitzen aufwerfen, der hat die Feldmütze quer auf dem Kopf und sieht so richtig wie eine Karikatur eines Soldaten aus; aber auch er marschiert ganz ernsthaft mit seinem Gewehr in Vorhalte an dem Grab vorbei.

Als wir die Maschinen alle am Rand liegen haben und auch keine der etwa 20 Pappeln mehr steht, ist es sicherlich schon später Nachmittag. Die Russen haben eine dicke Kartoffelsuppe mit mächtig viel Schweinefleisch drin gekocht und bringen mit einem kleinen Kübelwagen ein paar Zwanzig-Liter-Milchkannen voll davon zu uns heraus, und dann kriegen wir, die Männer, die die Pappeln gefällt haben und auch die Frauen und Kinder, die am Straßenrand mit den Treckwagen gewartet haben, jeder einen anständigen Schlag davon ins Kochgeschirr oder auf den Teller.

Als wir dann am Straßenrand sitzen und löffeln, kommen die neuen Benutzer des Flugplatzes an - schnelle und unheimlich wendige kleine Maschinen, die ich fast für „Spitfires“ halten würde, wenn sie nicht die roten Sterne auf den Flächen und am Seitenleitwerk hätten, und als sechs Stück davon gelandet sind, kommt noch eine etwas größere, eine Zweimotorige - und das ist eindeutig eine amerikanische Douglas „DC 3“ - aber auch die trägt rote Sterne.

Auf dem Grab am Straßenrand steht jetzt ein roter Holzobelisk mit einem Stern aus goldlackiertem Konservenbüchsenblech obendrauf und an dem Obelisken hängt ein Bilderrahmen aus dem Gut, wohl  mit dem Bild des Toten; die kyrillischen Schriftzeichen daneben geben sicherlich seinen Namen und seinen Dienstgrad an. Die Treckleute sind weitergefahren, und wir sitzen wieder am Ortsschild im Straßengraben und warten, was nun wohl kommt.

Zunächst mal kommt unser Sergeant und bedeutet uns, mitzukommen, und dann führt er uns auf dem Gut an eine Scheune und macht uns klar - jeder soll ein Bund Stroh aufnehmen. Mit dem Stroh schickt er uns in einen leeren Raum, der scheinbar die Kammer für die Milchkannen ist, und dann macht er die Tür hinter uns zu. Der Raum hat kein Fenster, und so ist es nun ziemlich dunkel. Also sollen wir hier scheinbar schlafen?

Der Chef hat mich, seitdem nur wir fünf Mann bei ihm geblieben sind, zu seinem Putzer „befördert“ und mich damit so mehr oder weniger für sein leibliches Wohl verantwortlich gemacht. Also suche ich eine saubere Ecke aus, lege dort sein Strohbündel auseinander und breite seine Decke darüber. Als ich dann dasselbe für mich machen will, sind die anderen Ecken und Längsseiten schon belegt, und für mich ist nur ein Platz am Eingang, direkt an der Tür übriggeblieben. Unter der Tür sind so etwa fünf Zentimeter Luft - also wird es dort ganz gewaltig ziehen, denke ich mir.

Aus dem Schlafen wird aber nichts; der Sergeant kommt zurück und macht uns klar, daß wir wieder raus auf den Hof müssen, und drückt uns unsere schon abgelegten Decken wieder in die Hand - also ist das hier wohl doch nicht unser Nachtquartier. Außerdem sollen wir uns beeilen - „Dawai, dawai!“

Dieses „Dawai“ hat uns schon den ganzen Tag begleitet, alles sollte „Dawai, dawai“! gemacht werden - und egal, was es eigentlich heißt, Herbert brauchte es nicht zu übersetzen, wir haben schon am Tonfall gemerkt, daß man uns damit antreiben wollte. „Los, los!“ oder „Nun macht schon!“ oder „Schnell, schnell!“ oder „Dalli, dalli!“ - irgendetwas in der Art war damit gemeint, und auch jetzt sollen wir also „dawai, dawai“ wieder runter von dem Gutshof und zurück auf die Straße.

Auf der Straße hält eine lange Kolonne Landser - schwer zu sagen, wieviele; es können fünfzig, aber auch hundertfünfzig Mann sein - in den verschiedensten Uniformen, Feldgrau, Fliegerblau, SS-Tarnanzüge, Fallschirmjäger-Knochensäcke, auch feldgraue Mariner mit goldenen Knöpfen und Litzen sind dabei, und in ziemlich regelmäßigen Abständen drumherum stehen russische Soldaten mit ihren langen Bajonetten auf den Gewehren. Der Sergeant geht mit uns an das Ende des Zuges und reiht uns fünf Mann dort ein, klopft mir nochmal auf die Schulter und verschwindet dann mit dem Chef in Richtung Spitze. Kurze Zeit danach setzt sich der Haufen in Bewegung, und wir müssen wohl oder übel mitlaufen.

Irgendwie erinnert mich das wieder an „Armee hinter Stacheldraht“, wahrscheinlich wegen der langen Bajonette auf den Gewehren der russischen Posten, die neben uns herlaufen, und plötzlich kommt etwas in meinem Denken nach vorne, das bisher irgendwo im Hintergrund und im Dämmern geblieben ist: wir sind jetzt Kriegsgefangene, das ist so, daran ändert sich nichts mehr, und der Krieg ist vorbei - mindstens für uns, aber wahrscheinlich auch überhaupt - und wir sind hier doch schon mitten in Deutschland und nur etwa zwei Tagesmärsche von Berlin entfernt - und - was soll denn da noch für ein Wunder passieren - und sowieso - wenn ich nicht mehr dabei bin .....