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Es ist Krieg

Dann kam der Sommer 1939. Das Wetter war einmalig schön, so als ob die Natur den Menschen noch einmal so richtig vor Augen führen wollte, welche intakte Welt sie mit ihren erkennbaren Absichten zerstören würden. Denn im Gegensatz zum Wetter waren die Nachrichten alles andere als erfreulich. Man probte schon ein bisschen Krieg, übte Verdunkelung und ließ auch schon vorsichtshalber Lebensmittelkarten für die im Ernstfall notwendig werdende Rationierung drucken.  

Die Menschen aber, die Menschen in ihrer Mehrheit, wollten keinen Krieg. Anders als vor dem ersten Weltkrieg gab es keinen „Hurra-Patriotismus“, keinen Erwartungsjubel, eher immer noch die leise Hoffnung auf das Wunder. „So blöd werden die doch nicht sein, die kennen doch alle noch die Schrecken des Weltkrieges!". Dabei war die Entscheidung längst gefallen. 

Wir Kinder liefen in den Ferientagen im August oft und gerne zur Nüller Straße. Auf der sogenannten „Rheinischen Strecke" mit dem nahe gelegenen Bahnhof Ottenbruch, rollten die Militärzüge. Man konnte darauf warten und immer wieder die Wagen abzählen oder interessant erscheinende Einzelheiten diskutieren. Waren das Kanonen unter den Planen, oder gar Panzer? Waren die Soldaten fröhlich oder ernst? Wohin fuhren die Züge?  

Der 26. August, mein dreizehnter Geburtstag, war ein Samstag. Zu Hause, auf der Straße, immer nur die besten Wünsche. Aber selbst die gleichaltrigen Kumpels waren schon befangen von der Sorge um die weitere Entwicklung. Fast hinter jedem Glückwunsch die bange Frage: „Was meinst Du, gibt es Krieg?". Und immer wieder die Antwort: „Hoffentlich nicht!" 

Doch noch am gleichen Tage wurde auch  bei uns zu Hause der Ernst der Lage deutlich spürbar. Fast schon befürchtet, traf für meinen zukünftigen Schwager Alfons Bäroth der Befehl ein, sich am nächsten Tag bei seiner Einheit in Erlangen zu melden. Dabei wollte er sich am 2. September mit meiner Schwester Hilde verloben, alles war für die große Feier geplant und vorbereitet. Nun  musste das Ereignis um eine Woche vorgezogen werden, aber ein richtiges Fest ließ sich in den wenigen Stunden natürlich nicht mehr organisieren. 

Außerdem sprach sich im Laufe des Tages herum, dass in offiziellen Bekanntmachungen alle in Urlaub oder auf Reisen befindlichen Zivilpersonen aufgefordert würden, spätestens bis Sonntagabend zu ihren Wohnsitzen zurückzukehren. Eine spätere Rückfahrt könne nicht mehr gesichert werden, hieß es, man benötige unter Umständen alle Strecken und Züge für Militärtransporte.  

Nun musste also meine Schwester Änne, die gerade bei Familie Esser in Offenburg ihren Urlaub verbrachte, am 27. August vorzeitig nach Hause kommen. Mit meinen Eltern ging ich an diesem letzten Friedenssonntag zum Elberfelder Hauptbahnhof, um sie abzuholen Die Stimmung auf den Bahnsteigen war unbeschreiblich: Hektik, Nervosität, Angst, Lärm. Menschen über Menschen die von Bahnsteig zu Bahnsteig hasteten, ununterbrochen Ansagen aus den Lautsprechern über verspätete oder umgeleitete Züge, dazu die überfüllten Züge selbst, aus denen die Leute nur mühsam heraus fanden, die drängelnden Massen die hinein wollten, ein Wunder fast, dass niemand unter die Räder geriet. Vervollständigt wurde der ganze Aufbruch noch von den Reservisten, die aufgrund der Mobilmachung zu ihren Standorten unterwegs waren.  

Auch wir rannten ständig hin und her. Weil meine Schwester unter Umständen in Köln umsteigen musste, konnte sie in jedem Zug aus dieser Richtung sein.  Es dauerte Stunden bis sie schließlich eintraf und wir sie im Gewühl entdeckten. Wie sich bald herausstellte, war die gesamte Vorsichtsmaßnahme völlig überflüssig, der Reiseverkehr lief noch für längere Zeit fast ungestört. 

Am 1. September aber begann mit dem Feldzug gegen Polen tatsächlich der Zweite Weltkrieg. Meine Eltern mögen an diesem Tag vieles befürchtet haben - und das meiste ist ja wohl auch eingetroffen - aber an eines haben sie mit Sicherheit nicht gedacht, dass ich noch als Soldat in den Krieg ziehen würde. Fast auf den Tag genau vier Jahre später, am  29. August 1943, rückte ich, gerade 17 Jahre alt geworden, zum Reichsarbeitsdienst ein, drei Monate später zum Wehrdienst.  

Es ist Krieg... und keiner merkt´s so richtig. Denn kaum war der erste große Sieg eingefahren, Polen vernichtet,  „..mit Mann und Ross und Wagen, hat sie der Herr geschlagen!", der Jubel verrauscht, da wurde es merkwürdig ruhig. Keine Kämpfe, keine Schlachten, keine Sondermeldungen mehr. Krieg mit England, mit Frankreich, ja, aber nichts passierte. Über mehrere Monate entwickelte sich vielmehr ein Zustand, dem die beunruhigten Franzosen sogar einen Namen gaben: „Drôle de guerre“, drolliger Krieg!  

Zwar wurden alle ständig irgendwie ausgebildet, Luftschutz, Verdunkelungsmaßnahmen, Brandbekämpfung, Feuerpatsche, Sandeimer. Zwar musste man sich einschränken, Lebensmittelmarken, Spinnstoff-scheine, Rauchermarken, Benzinrationierung, aber alles in allem war das noch keine Notsituation. Ohne Bezugscheine waren „Volksgasmasken" im Angebot, das Stück für 5 Reichsmark. Natürlich habe ich mir eine gekauft und hätte auch gerne die gesamte Familie damit versorgt, doch zu meiner Überraschung wollte keiner so ein Ding haben.  

Weihnachten 1939 änderte sich bei uns eine alte Tradition, die Bescherung wurde auf den „Heiligen Abend“ vorgezogen. Ich fand das nicht so gut, mir hatte die Geschenkeübergabe am Morgen des ersten Feiertages mit dem festlichen Ablauf immer besser gefallen. Nach dem Besuch der frühmorgendlichen Christmette musste Vater die Kerzen anzünden, wir standen alle erwartungsvoll vor der Türe und dann öffnete sich das Paradies. Doch davon blieb im Dezember 1939 nicht mehr viel übrig. 

Im April 1940 war es mit der trügerischen Ruhe vorbei, Norwegen und Dänemark wurden besetzt. In Norwegen gab es schwere Kämpfe mit englischen und französischen Landungstruppen, auch norwegische Verbände wehrten sich kräftig, doch nach heftigen Rückschlägen behielten die deutschen Truppen letztendlich überraschend die Oberhand. 

Der große Schlag im Westen begann am 10. Mai. Holland, Belgien, Luxemburg fielen in wenigen Tagen, Frankreich innerhalb von sechs Wochen, damit hatte keiner gerechnet. In den offiziellen Jubel, in die Flaggen- und Truppenparaden, in das einwöchige mittägliche Kirchengeläute, mischte sich nicht nur der Stolz über die Leistungen unserer Soldaten, sondern vorübergehend auch ein Hauch von Hoffnung, vielleicht ging ja doch noch alles gut.  

Außerdem war Italien an unserer Seite in den Krieg eingetreten. Nicht mehr das Italien, das 1914 seine Dreibund-Partner Deutschland und Österreich schnöde im Stich gelassen hatte, sondern das mächtige, zuverlässige, schlagkräftige Italien des großen Duce Benito Mussolini, wie uns Rektor Plümer versicherte. Als dieser Duce dann im September 1940 Griechenland von Albanien aus erobern wollte, ging er mächtig baden. Auch der zweite Versuch im März 1941 scheiterte. Deutschland mussste ihm danach helfen.

In unserer Pfarrgemeinde bildete sich ab 1940 ein Freundeskreis aus Angehörigen der Jahrgänge 1923 bis 1926. Fast alle hatten es irgendwie verstanden, sich dem regelmäßigen HJ-Dienst zu entziehen. Als Treffpunkt diente uns zunächst das Pfarrjugendheim neben der Kirche, später ein ziemlich versteckt liegender Raum im Katholischen Gesellenhaus in der Bergstraße, schon vor unserer Zeit „Möhnewinkel“ genannt.  

Wir diskutierten abends und an den Wochenenden über Gott und die Welt, auch über die politischen Verhältnisse, mit denen sich keiner so recht anfreunden mochte, aber das Vaterland verteidigen, das wollten wir trotzdem. Dazu spielten wir Schach und Tischtennis, sangen die altbekannten Pfadfinder-Fahrtenlieder, wie „In Junkers Kneipe“, „Kameraden wann sehen wir uns wieder“, oder auch „Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht“. Zum  Abschluss erklang oft das Lied „Wir traben in die Weite“, mit einem der Fassung der "Edelweißpiraten" angepassten Text:  

         Wir traben in die Weite, das Fähnlein steht im Spind,
         viel Tausend mir zur Seite, die auch verboten sind,
         das Fahrtenhemd im Schranke, das Halstuch und der Hut,
         die sagen Gott sei Danke, jetzt haben wir`s auch mal gut.

Zur letzten Strophe, die mit "Das Lilienbanner wehet...." begann und mit "...hell klingen unsere Lieder: Gut Pfad! Allzeit bereit!" endete, bildeten wir mit den Händen eine Kette.

Und wenn von uns das Lied "Lasst die Banner wehen, über unseren Reihen..." angestimmt wurde, hörte sich die Schlußzeile fast trotzig an: 

           "Wir sind bereit, rufen es weit, Christus ist König unserer Zeit!"  

Viele Freunde sind aus dem Krieg leider nicht zurückgekehrt. Das Gesellenhaus fiel im Junii 1943 den Bomben zum Opfer. 

Es gab neben dem „Pfarrkreis“ natürlich auch noch andere junge Leute, Freunde oder Bekannte, mit denen ich mich traf, Ausflüge machte oder einfach nur diskutierte. In der Hitler-Jugend war auch von denen keiner mehr aktiv. Die meisten fanden es eher zeitgemäß, sich zumindest in Gedanken auf der Linie der „Edelweiß-Piraten“ zu bewegen. Es hatte sich da sogar ein Begriff entwickelt, von dem ich nicht weiß, ob er nur örtlich begrenzt oder weiter verbreitet war, der Name „Tampico-Boys“. Wer mit der Hitler-Jugend nichts am Hut hatte, gerne ein bisschen verschwörerisch tat, „Bündische Lieder“ aber auch Jazz oder Hot liebte, der war eben ein „Tampico“. 

Das alles war nicht überaus staatsgefährdend, aber entweder verboten oder verdächtig. Gerne sang man daher gemeinsam das Lied „Hoch droben auf dem Berg“, mit leicht geändertem Text: 

       Hoch droben im Bendahl, wohl unter den funkelnden Sternen,
       da „saß“ ich einmal, weil ich ein „Tampico“ war, 

Der Name des Ortsteils Bendahl war gleichzeitig das Synonym für das hier stehende Gefängnis, wer da „saß“, war „im Bendahl“. 

Hin und wieder gab es selbstverständlich auch hübsche „Anbandeleien“, Mädchen aus der Pfarre, Kolleginnen, Schwestern von Freunden, für Kinobesuche, Spaziergänge, abendliche Treffen im Gesellenhaus-Restaurant. Enge Bindungen sind daraus aber nicht entstanden.

Im Sommer 1942 fuhr ich mit einem Freund an einigen Wochenenden mit dem Fahrrad zur Bevertalsperre. Ein Bekannter hatte uns erlaubt, sein in einem Bauernhof liegendes Faltboot zu benutzen. Damit wir schon samstags anreisen konnten, hatte uns der Bauer nach langem Zureden erlaubt, in der Nacht zum Sonntag in seiner Scheune zu schlafen. Das zögerliche Verhalten hatte einen guten Grund, „freies Übernachten" war streng verboten und nur der Hitler-Jugend erlaubt. Wir  waren daher immer äußerst vorsichtig, liefen dann aber doch an einem frühen Sonntagmorgen einer plötzlich auftauchenden HJ-Streife über den Weg.  

Die vier etwa gleichaltrigen Burschen waren erfolgshungrig und wollten uns mit allen Tricks  zu einem Eingeständnis  bewegen. Wir konnten uns mit unseren Personalausweisen, HJ-Mitglieds-Ausweisen und HJ-Führer-Ausweisen recht ordentlich darstellen. Deshalb versuchten sie auch, uns auf die kumpelhafte Tour zu  einem Eingeständnis zu bewegen. Vergeblich, wir waren eben sehr früh zu Hause aufgebrochen und erst vor wenigen Minuten eingetroffen. Hier übernachtet? Das ist doch streng verboten!  

Schließlich gaben sie auf, monierten noch die fehlenden Kontrollstempel der letzten Quartale in unseren HJ-Ausweisen und ermahnten uns, das baldmöglichst in Ordnung zu bringen. Der Bauer, der von seinem Haus aus alles mit ziemlicher Sorge beobachtet hatte und sich schon im Gefängnis sitzen sah, atmete nach dem Abgang der Streife mehrmals tief durch, gab uns dann aber freundlich zu verstehen, dass wir in Anbetracht des Risikos bei ihm zukünftig nicht mehr übernachten dürften. Wir hatten dafür volles Verständnis, es war ja nicht auszuschließen, dass die „Kameraden" sich an den kommenden Wochenenden auf die Lauer  legen und den Hof überwachen würden. Sie hatten uns mit Sicherheit nicht geglaubt, konnten uns aber an diesem Tag zu ihrem Leidwesen nichts nachweisen, abgesehen von den fehlenden Kontrollstempeln und die fehlten auch weiterhin. Denn um an die zu kommen, hätten wir ja wieder am vorgeschriebenen HJ-Dienst teilnehmen müssen.

Zu einer dreitägigen vormilitärischen Ausbildung wurde ich im April des Jahres 1943 einberufen. Dabei waren etwa 100 nach irgendwelchen Kriterien ausgesuchte junge Leute, alle aus Wuppertal, untergebracht in der Polizeikaserne am Arrenberg in Elberfeld. Man verpasste uns grau/blaue Uniformen ohne jedes Emblem, für die Beine Wickelgamaschen. Alles kam uns irgendwie merkwürdig vor, bis wir merkten, dass hier eine genau geplamte Werbeveranstaltung für die Division "Hitler-Jugend" in der Waffen-SS ablief.  

Am dritten Tag wurden wir einzeln zu Gesprächen in verschiedene Dienstzimmer gerufen, wo uns nach kräftigem Gebrauch der Werbetrommel tatsächlich die Bogen für die Freiwilligenmeldung vorgelegt wurden. Der Druck, der dabei  von jeweils drei Polizeioffizieren auf jeden einzelnen ausgeübt wurde, war groß, aber hinterher hat jeder von uns behauptet, standfest geblieben zu sein. Warum wohl wollten die meisten damals nicht so gerne zur Waffen-SS?   

Am 30. Mai 1943 musste ich dann noch in ein Wehrertüchtigungslager der Hitler-Jugend nach Arsbeck bei Wegberg am Niederrhein. Die Teilnehmergruppe aus Wuppertal hatte an diesem Sonntagmorgen große Schwierigkeiten mit der Abreise. In der Nacht zuvor hatte ein schwerer Bombenangriff den Ortsteil Barmen zerstört,  der Zugverkehr war praktisch zum Erliegen gekommen. Die leise Hoffnung, dass damit die ganze Aktion ausfallen würde, erfüllte sich nicht, gegen Mittag kamen wir weg. Ich konnte dann schon nach fünf Tagen wegen einer unangenehmen Zahnentzündung das Lager wieder verlassen. Für die Zurückgebliebenen summierten sich die vorgesehenen drei schließlich zu sechs Wochen, in denen sie nachher fast nur noch in verschiedenen Städten zu Aufräumungsarbeiten nach Bombenangriffen eingesetzt worden sind.  

Zu solchen Hilfsleistungen teilte man aber auch die oberen Klassen der Gymnasien ein. Harald Leipnitz berichtet in seinem Buch „Wuppertal, Lebens-Schwebe-Bahn-Stationen“, über seinen Einsatz nach dem Bombenangriff auf Elberfeld. Zusammen mit einem ebenfalls siebzehnjährigen Klassenkameraden musste er sich im Rathaus melden. „Wer von Euch hat Mut“, wurden sie gefragt und als sie die Hand hoben, was sollten sie sonst auch machen, waren sie eingeteilt für das Leichenbergungskommando. 

Sie haben sich, wie er schreibt, zusammengenommen und die traurige Arbeit verrichtet. Mittags sind sie zu einer Verpflegungsstelle für Ausgebombte im Bahnhof Ottenbruch gegangen, um etwas zu essen und sich auszuruhen, in einem gesonderten Raum. Unter normale Menschen glaubten sie sich in ihrer Verfassung nicht mischen zu können: „Uns haftete der Geruch des Todes an!". 

Der Bombenangriff am 29./30. Mai 1943, katapultierte die Wuppertaler Bevölkerung aus einer trügerischen Ruhe in die schlimme Wirklichkeit. Weil die Stadt bis zu diesem Tag völlig verschont geblieben war, glaubten viele Bewohner nur zu gerne an irgendeinen besonderen Grund. Mehr oder weniger scherzhaft erzählte man sich unter anderem zur eigenen Beruhigung, eine Tante von Winston Churchill wohne in Wuppertal, eine Bombardierung sei daher von ihm verboten worden. Nach und nach verzichteten immer mehr Menschen darauf, bei Fliegeralarm den Luftschutzkeller aufzusuchen. Auch die Luftwaffenführung dachte wohl so, denn schließlich wurden sogar die Flak-Batterien abgezogen und zu vermeintlich gefährdeteren Städten verlegt.  

Als dann die ersten Bomben fielen, lagen viele Menschen noch in den Betten. Sie hatten, wie oftmals zuvor, die Sirenen einfach ignoriert und stolperten in Schlafanzügen in die Katastrophe. Elberfeld blieb zwar in dieser Nacht weitgehend verschont, aber das konnte ich nicht wissen, als ich durch einen Zufall am Himmel in Richtung Barmen die sogenannten „Christbäume“ sah, die Zielmarkierungen für die Bomber.  

Raus aus dem Bett und ab in den Keller, wo sich dann auch die anderen sieben Hausbewohner schreckensbleich einfanden. Das alles schon begleitet von dem Getöse und den Erschütterungen der gar nicht so weit entfernt scheinenden Einschläge. Als  wir uns nach einer knappen Stunde wieder aus dem Keller trauten, war Barmen eine brennende Trümmerwüste mit 118.000 Menschen ohne Obdach. Die Bomberverbände hatten präzise gearbeitet, über der Stadt gab es  ja nicht die geringste Behinderung, weder durch Flakgranaten noch durch deutsche Jagdflugzeuge.  

„Wuppertal bleibt stets verschont, weil hier Churchills Tante wohnt“, das konnte es also nicht gewesen sein. Nein, die Stadt hatte bis zu diesem Tag von ihrer geographischen Lage gelebt. Die vielfältigen Höhen und Täler des Bergischen Landes machten in der Dunkelheit die genaue Orientierung aus der Luft sehr schwer, nächtliche Nebel- und Dunstschwaden in den Tälern taten ein Übriges. 

Als dann die Briten mit dem neuen elektronischen Zielfindungssystem „Oboe“, die Pfadfinderflugzeuge ihrer Bomberverbände auf Funkleitstrahlen der Bodensender „Katz" und „Maus" auch im Blindflug an jedes Ziel bringen konnten, war es mit der Schonzeit vorbei. Hartnäckigen Gerüchten zufolge hatte es in feindlichen Flugblättern schon seit längerer Zeit deutliche Hinweise gegeben: „Wuppertal im Loch, wir finden dich doch!“. Genau so war es. 

Nur wenig später, am Sonntag dem 20. Juni, hatte ich mich mit ein paar Freunden aus der Pfarre am Nachmittag zur Teilnahme an einer Jugendandacht verabredet. Unser Kreis bestand jetzt nur noch aus Angehörigen des Jahrgangs 1926, alle Älteren waren bereits eingezogen. Schon kurz nach Beginn der Andacht gab es Fliegeralarm. Wir postierten uns in einem Hauseingang gegenüber der Kirche und konnten beobachten, wie nach einiger Zeit ein einzelnes Flugzeug in aller Ruhe über der Stadt seine Kreise zog. Unsere Vermutung, dass da ein feindlicher Beobachter Luftaufnahmen für einen geplanten Bombenangriff auf Elberfeld machte, fühlten wir wenige Tage später böse bestätigt. Unbegreiflich blieb für uns, warum da keine eigenen Jagdflugzeuge auftauchten und diesen ungeschützt fliegenden Störenfried vom Himmel fegten. 

Noch nicht einmal vier Wochen nach dem Angriff auf Barmen, in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1943, zerstörte ein weiterer verheerender Bombenangriff weitgehend den Ortsteil Elberfeld. Die elterliche Wohnung blieb dabei unbeschädigt, die Schneise der Verwüstung endete knapp 50 Meter vor unserem Haus. Meine verheirateten Schwestern verloren zwar ihre Wohnungen, sie selbst und die Kinder blieben aber unverletzt.  

Am Vormittag dieses dramatischen Tages bin ich mit meiner Mutter nach Offenburg gefahren, sie sollte hier nach einem Krankenhausaufenthalt etwas ausspannen. Ich blieb nur eine Woche, fuhr aber Mitte August nochmals hin, um sie wieder abzuholen. Bei beiden Anlässen nutzte ich meine Urlaubstage zu Reisen in die nähere und weitere Umgebung. Ein Erlebnis besonderer Art war dabei für mich ein Besuch in Konstanz. 

Da stand ich nun am Abend in einem Wechselbad von Gefühlen am Grenzübergang zur Schweiz, sah helles Licht, glaubte Frieden und Wohlstand in greifbarer Nähe zu fühlen und musste zurück in die Dunkelheit, in den Krieg. Schon am Tage hatte ich bei der Fahrt mit der Fähre nach Meersburg und zurück, das zur Schweiz gehörende Ufer interessiert, aber mehr noch mit Neid betrachtet. Zwei Besuche in Straßburg, auch eine andere Welt, und ein Sonntagsausflug nach Baden-Baden rundeten die schöne Zeit ab. 

Für mich überraschend früh, wurde ich am 29. August 1943 zum Reichsarbeitsdienst einberufen. Die Dienstzeit verbrachte ich zunächst für etwa drei Wochen in Neustadt am Rübenberge, dann verlegte man unsere Einheit nach Ostpreußen. Die Truppe, die für uns im Tausch nach Neustadt kam, sollte in Hannover bei der Flak eingesetzt werden. Wir wurden dagegen in Prowehren bei Königsberg als Helfer beim Bau eines neuen militärischen Flughafens benötigt. Dafür steigerte sich der Tagessold von mageren 25 Pfennigen auf eine Reichsmark. In einem angenehmen Sonderauftrag durfte ich Anfang Oktober vierzehn Tage lang als Kurier die Post zwischen der Gruppe am Flughafen und dem Gau in Königsberg befördern. Vormittags fuhr ich mit der Eisenbahn ab Goldschmiede nach Königsberg, brachte den Umschlag zur Gaudienststelle, holte am Nachmittag die Unterlagen für die Gruppe ab und dampfte wieder zurück. Dazwischen hatte ich Zeit, mich in der Stadt umzusehen.

Kurz danach bekam die  Führung der Gruppe den Auftrag, für eine geplante Sendung im Reichssender Königsberg einen Chor zusammenzustellen. Etwa dreißig Arbeitsmänner wurden nach einem Probesingen hierfür ausgesucht, darunter auch ich. Vierzehn Tage lang mussten wir nach dem Abendessen zwei vorgegebene Lieder einstudieren, bis man uns endlich an einem frühen Vormittag zum Funkhaus nach Königsberg beförderte.

Mit uns traf dort ein Arbeitsmaiden-Chor ein. Sofort dachten wir  an freundliche „Annäherungen", aber die Mädchen waren stocksteif und überhaupt nicht ansprechbar. Gemeinsam wurden wir in ein Studio geführt und auf einem Podest über vier Stufen sorgfältig verteilt. Dabei versuchte der Tonmeister immer dringlicher mich von einer vermeintlichen Stufe zu jagen, bis er erkannte, dass ich zwar in der zweiten Reihe, aber neben dem Podest stand: „Ach so! Zwei Meter!". 

Nach ausführlichen Proben konnten wir dann endlich mit unserem Lied anfangen: 

  Der Spaten in des Mannes Hand, ist eine blanke Wehre.
  Denn er erkämpft dem Volke Land und wo er stritt in Sumpf und Sand
  rauscht nun im Wind die Ähre!

Nach der dritten Strophe rezitierte ein Sprecher Gedichte über Urbarmachung, Boden und Scholle, dem anschließenden Lied der Arbeitsmaiden folgten wieder Gedichte, jetzt über Saat, Werden und Ernte, den Schluss bildete das gemeinsam gesungene Lied  „Abends unterm Weizenkranz ist im Wirtshaus Erntetanz".

Die Aufnahme sollte am 3. Dezember 1943 im  Großdeutschen Rundfunk auf Sendung gehen. Leider kam ich  um den erhofften Genuss des Zuhörens, ich hatte als Kriegsfreiwilliger seit dem 26. November den Spaten gegen einen Karabiner der "Division Hermann Göring" getauscht. Und in der Kaserne der 6. Panzerkompanie in Harderwijk, hatte keiner Verständnis für meinen Wunsch. 

Gesungen habe ich in der Kaserne dann mit einem anderen Chor und zwar in der Weihnachtsmesse. Damit jeder die Liedertexte auch laut mitsingen konnte, verteilte der Standortpfarrer an die Teilnehmer ein kleines Büchlein, das "Katholische Feldgesangbuch". Auf 95 eng bedruckten Seiten waren Messen, Gebete, Andachten und Lieder aufgeführt. Aber auch die Berufspflichten des deutschen Soldaten, der Fahneneid, Kriegsbriefe tapferer deutscher Soldaten und - wohl unvermeidlch - das Gebet für Führer, Volk und Wehrmacht. Hier ein paar Auszüge aus den Seiten 9, 10 und 20:                     
 
                             DEUTSCHES  SOLDATENTUM
 
                   Die Berufspflichten des deutschen Soldaten     

1.  Die Wehrmacht ist der Waffenträger des deutschen Volkes. Sie schützt das Deutsche Reich und Vaterland, das im Nationalsozialismus geeinte Volk und seinen Lebensraum. Die Wurzeln ihrer Kraft liegen in einer ruhmreichen Vergangenheit, im deutschen Volkstum, deutscher Erde und deutscher Arbeit. Der Dienst in der Wehrmacht ist Ehrendienst am deutschen Volke.

2.  Die Ehre des Soldaten liegt im bedingungslosen Einsatz seiner Person für Volk und Vaterland bis zur Opferung seines Lebens.
      ....
      ....

8.  Größten Lohn und höchstes Glück findet der Soldat im Bewußtsein freudig erfüllter Pflicht. Charakter und Leistung bestimmen seinen Weg und Wert.
         
                Gebet für Führer, Volk und Wehrmacht

 Lasset uns beten!

In Deiner Hand, o Gott, liegt die Herrschaft über alle Reiche und Völker der Erde.
      ......
      ......

Segne besonders unseren Führer und Obersten Befehlshaber in allen Aufgaben, die ihm gestellt sind. Laß uns alle unter seiner Führung in der Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen im Reiche Deines Lichtes und Deines Friedens. Amen.                            
                           
     
„KATHOLISCHES  FELDGESANGBUCH“ H.Dv. 372 / M.Dv. Nr. 838 / L.Dv. 42).
Mit Genehmigung des Katholischen Feldbischofs der Wehrmacht vom 24. August 1939.

                          Originalgröße 7,5 x 10 cm.

"Krieg und Frieden" komponiert und gespielt von Fredy Dörpinghaus